Kategorie-Archiv: Märchen ?

Wahrheit und Märchen

“Rätselhaft ist das menschliche Herz: Es verlangt nach Wahrheit, nur in ihr kann es Befreiung und Entzücken finden, und doch reagieren die Menschen zunächst auf die Wahrheit mit Feindseligkeit und Furcht. Daher ha­ben die geistlichen Lehrer der Menschheit wie Buddha und Jesus einen Weg gefunden, um den inneren Wider­stand ihrer Zuhörer zu umgehen: die Geschichte. Sie wuss­ten, die bezwingendsten Worte in jeder Sprache lauten: »Es war einmal …« und mag es auch üblich sein, der Wahrheit zu widerstehen, so ist es doch unmöglich, sich gegen eine Geschichte zur Wehr zu setzen.

Vyasa, Autor des Mahabharata, sagt, wer einer Ge­schichte aufmerksam lausche, wird nie mehr der Glei­che sein wie zuvor, weil die Geschichte sich in sein Herz hineinschlängeln wird und die Schranken vor dem Gött­lichen niederreisst.”

Zitiert aus dem Vorwort (Seite 5) im Buch „Warum der Schäfer jedes Wetter liebt“ von Anthony De Mello.
Herder-Verlag 2013

Vergleiche auch diese Geschichte aus der jüdischen Erzähltradition. die ich so ähnlich oft am Anfang eines Märchenabends erzähle.

Irgendwoland

„Jedes Märchen führt in ein anderes Land, nämlich in ein Land, das in uns liegt.
Nicht in ein fremdes „Irgendwoland”, sondern es führt in uns selbst.
Das ist das andere Land, aber wir beobachten es nicht, weil der Alltag uns eigentlich immer glauben macht, wir seien schon im Land.
Aber unser eigenes Inneres verfehlen wir sehr oft. Das Märchen ist Weg.”

Rudolf Geiger

Fabel und Sphinx

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Novalis: Gespräch zwischen Fabel und SphinxNovalis
(aus Heinrich von Ofterdingen, Teil 1/20)

 ›Was suchst du?‹ sagte die Sphinx.
›Mein Eigentum‹, erwiderte Fabel.

›Wo kommst du her?‹ – ›Aus alten Zeiten.‹ –

›Du bist noch ein Kind‹ – ›Und werde ewig ein Kind sein.‹ –

›Wer wird dir beistehn?‹ – ›Ich stehe für mich. ‹ 

Anstelle des Namens “Fabel”, bei Novalis die Tochter von Sinn und Phantasie, könnte auch „Märchen“ stehen.

Oder was meinst Du ?

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Herkunft der Märchen

Gemeinsam allen Märchen sind die Überreste eines in die älteste Zeit hinaufreichenden Glaubens, der sich in bildlicher Auffassung übersinnlicher Dinge ausspricht.

Dies Mythische gleicht kleinen Stückchen eines zersprungenen Edelsteins, die auf dem von Gras und Blumen überwachsenen Boden zerstreut liegen und nur von dem schärfer blickenden Auge entdeckt werden.

Wilhelm Grimm 1856, Anmerkungen zu den KHM, S. 409

Märchen erzählen vom Wünschen

Aus dem Vorwort von Heinrich Dickerhoff (Präsident der Europäischen Märchengesellschaft) im neuen Buch von Rolf Wunderer („Führung in Management und Märchen“, Luchterhand-Verlag 2010).

Märchen erzählen von hilfreichen Wünschen, aber hilfreich sind die Wünsche nur, wenn sie uns in Bewegung setzen, so dass wir uns dem Wunsch-Ziel mit all unseren Möglichkeiten nähern – Utopie oder Vision nennt man solche Wünsche auch.

Märchen warnen vor Verwünschung, und ver-wünschen bedeutet »falsch wünschen«, Es gibt Menschen und vielleicht auch Organisationen, die meinen, sie wären ver-wünscht worden, dabei haben sie sich selbst ver-wünscht.

Klassische Ver-Wünschungen, die mir im Gespräch über individuelle Lebenskrisen begegnen, sind etwa »ich muss perfekt sein«, »ich kann mich nur auf mich selbst verlassen«, aber auch »andere sind dafür verantwortlich, dass ich glücklich werde«.


Märchen und Mythen

Tafel mit Gilgamesch-Epos

Mythen …

(Bild: Tafel mit Gilgamesch-Epos) Mythen sind Geschichten aus uralter Zeit. Immer versuchen sie eine Erklärung oder Herleitung für Dinge und Umstände zu finden, für welche keine bekannten Tatsachenberichte oder anderen rationalen Erklärungen vorliegen. Mythen erheben immer einen gewissen wissenschaftlichen Anspruch im Sinne, dass sie fundierte Erklärungsmodelle, Theorien liefern.

Keine Kultur, keine Religion kommt ohne Mythen aus. Oft verhelfen die Mythen sogar zur Identitätsfindung eines Volkes oder einer Kultur. Ohne die Mythen aus den Hochkulturen des Vorderen Orients und Ägyptens wüssten wir wenig über die grossen kulturellen Umwälzungen beim Übergang von den matrifokalen zu den patriarchalischen Gesellschaften. Ohne die Mythen des griechischen Altertums hätten wir nur eine sehr bescheidene Vorstellung vom alten Griechenland. Ohne das Alte Testament wäre kein Volk Israel, kein jüdischer Staat denkbar; und natürlich auch keine Christenheit. Der Mythos von Wilhelm Tell hat die Kultur der Schweiz und der Schweizer geprägt, selbst bei denen, die die Existenz Wilhelm Tells völlig verneinen.

Bodmin Moor (Cornwall UK): König Arthurs HalleHeute ist das Thema der Entstehung der Welt bei uns „entmythifiziert“. Aber Menschen brauchen offenbar Mythen. Die modernen Mythen befassen sich mit uns näherliegenden Themen, wie etwa die Mythen, die sich um das Geld, um das Gehirn, um medizinischen Fortschritt oder um die Bedeutung der Information drehen. Auch moderne Mythen erheben wie im Altertum den Anspruch wissenschaftlich fundiert zu sein.

Typisch für die Mythen war und ist nicht nur ihr Anspruch, Geschichtsschreibung und fundierte Theorie zu sein, sondern auch, dass es viele verschiedene, widersprüchliche Erklärungsmodelle für die Welt geben kann. Oft existierten zur gleichen Zeit in derselben Kultur Mythen, die analytisch betrachtet sich völlig widersprachen. Selbst im Alten Testament gibt es zwei Versionen der Entstehung des Menschen. Auch Gott erscheint einerseits als Elohim, dem freundlichen und fürsorglichen Gott, in welchem die Götter der Nachbarvölker der Israeliten zum höchsten Gott vereint sind (deshalb ist Elohim ein Plural) und der in Genesis 1 liebevoll die Welt erschafft und sich selber daran freut. Anderseits und zunehmend erscheint Gott als strenger patriarchalischer Jahwe, der Adam und Eva aus dem Paradies wirft und später das Volk Israel zu militärischen Siegen führt.

… und Märchen

In den Märchen ist im Gegensatz zu den Mythen die Welt einfach da; sie ist wie sie ist. In Entwicklung sind dafür umso mehr die Menschen. Für sie möchte das Märchen Hilfe und Anleitung auf den Lebensweg geben, ermutigen und Zuversicht verbreiten, dass der Weg, obwohl gespickt mit Prüfungen, letztlich zu einem guten Ende führt.

Die Gemeinde- und Schulbibliothek Gelterkinden führt seit mehreren Jahren die Tradition des freien Erzählens von Märchen weiter. Freuen wir uns auch dieses Jahr auf das Hören und Miterleben von Märchen und Mythen.

Nähere Auskunft: Urs Volkart Tel 061 981 44 72, urs.volkart@maerchenquelle.ch;
oder Gemeinde- und Schulbibliothek Gelterkinden, Sissacherstrasse 20, Telefon 061 981 43 81.