Wovon lebt der Märchenerzähler ?
Die Volks- und Publikumsmeinung ist eindeutig: Von der Freude am Erzählen!
Und die Motivation jedes/r Märchenerzählenden entspringt sicher der Freude am Erzählen.
Aber von der Freude am Erzählen allein kann man nicht leben. Es bräuchte dann schon ein sehr tiefes Vertrauen in den eigenen schicksalshaften Märchen-Lebensweg, dass einem im richtigen Moment Hilfe, auch finanzielle, zukommt.
Die obige These zur Volks- und Publikumsmeinung kann jederzeit empirisch überprüft werden: einfach einen Erzählabend mit freiem Beitrag (Kollekte) statt Eintritt durchführen. Der durchschnittliche Beitrag pro Teilnehmenden liegt ungefähr beim Preis für ein Bierchen in der nächsten Beiz.
Was ist ein guter Eintrittspreis? Die Schmerzgrenze scheint bei etwa 15 Franken (9 Euro) zu liegen. Mit anderen Worten, viele Zuhörende sind bereit für eine Filmkonserve im Kino mehr Eintritt zu bezahlen als für einen Live-Auftritt eines Märchenerzählers.
Ich habe einige Male eine “Nachkalkulation” gemacht und bin so, nach Abzug des Aufwandes für Propaganda, Saalmiete und Pausenverpflegung, und unter Berücksichtigung der Vorbereitungszeit, auf eine Stundenlohn von 2-3 Franken gekommen. Immerhin.
Natürlich ist es richtig, dass eine grosse Zahl von Märchenerzählenden einer anderen Haupterwerbsarbeit nachgeht. Aber der Aufwand für das Hobby der Märchenarbeit (Fachliteratur, Kurse usw.) ist da, und einen kleinen Beitrag an diesen Aufwand schätzt auch jede/r Hobby-Erzählende.
Ein steigender Teil von Erzählenden benötigt aber die Einkünfte aus der Märchenarbeit als Zusatzeinkommen. Das heisst, wenn ich für einen Märchenabend einen Lohn von 100 Franken akzeptiere, ist das nicht weiter tragisch. Aber ich mache natürlich so den Marktpreis kaputt; vor allem für diejenigen, die vom Märchen Erzählen leben.
Das ist die eine Dimension:
In einer Zeit, wo alles in Marktwert gerechnet wird, muss ich mich fragen, was ist meine Arbeit als Märchenerzähler wert ? (Von Bechstein gibt es übrigens ein Märchen “Undank ist der Welt Lohn“.)
Das ist die andere Dimension:
Mein Selbstwert hat nichts mit dem Marktwert des Märchenerzählens zu tun. Wenn ich so weit bin, dass ich meinen Wert als Mensch und Märchenerzähler an den Kollektenergebnissen und Eintrittspreisen messe, dann bin ich definitiv “im falschen Film”. Ebenso, wenn ich Märchen aus dem Grund erzähle, dass die Zuhörenden mich super finden, und ich so mein Ego polieren kann.
Was sagen denn eigentlich die Märchen zum Thema Lohn ?
Einige Beispiele aus den KHM der Brüder Grimm:
- Gar kein Lohn oder nur ein paar Cent (z.B. Der Knecht in “Der Jude im Dorn”; typisch bei ausgedienten Soldaten, z.B. in “Bruder Lustig”) oder Verzicht auf Lohn mit Hintergedanken (z.B. in “Der junge Riese”).
- Mehrfach um den Lohn geprellt vom Auftraggeber (z.B. “Das tapfere Schneiderlein”) oder von den erfolglosen Brüdern (z.B. in “Das Wasser des Lebens”).
- Zauberkräftige Gegenstände (z.B. in “Tischlein deck dich,….”).
- Unpraktische Zahlungsform (z.B. drückender Goldklumpen in “Hans im Glück”, siehe auch mein früherer Beitrag)
Von Geld als Lohn ist selten die Rede. Kommt ein/e Märchenheld/in in grosse Not, gilt es durchzuhalten, bis Hilfe kommt. Das Durchhaltevermögen, aus einer inneren Motivation heraus und im unausgesprochenen Urvertrauen, das alles gut wird, kann lange geprüft werden. Die Überwindung aller Not, oft nur dank der helfenden Wesenheiten, kommt am Schluss.
Ganz im Gegensatz dazu sind Wesenheiten, die helfend und schicksalswendend eingreifen, manchmal in ihren Lohnforderungen eher unbescheiden und haben es nicht selten auf ein Kind abgesehen (z.B. in “Rumpelstilzchen” und “Die Nixe im Teich”).
Fazit: Die Volksmeinung hat völlig recht, dass die Märchenerzählenden keinen pekuniären Lohn haben sollen. Aber die Konsequenz wäre, die Märchenerzählenden sonst mit allem Nötigen unaufgefordert zu versorgen….
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