Wir finden es wohl, wenn Sturm oder anderes Unglück, vom Himmel geschickt, eine ganze Saat zu Boden geschlagen, daß noch bei niedrigen Hecken oder Sträuchen, die am Wege stehen, ein kleiner Platz sich gesichert und einzelne Aehren aufrecht geblieben sind. Scheint dann die Sonne wieder günstig, so wachsen sie einsam und unbeachtet fort, keine frühe Sichel schneidet sie für die großen Vorrathskammern, aber im Spätsommer, wenn sie reif und voll geworden, kommen arme, fromme Hände, die sie suchen; und Aehre an Aehre gelegt, sorgfältig gebunden und höher geachtet, als ganze Garben, werden sie heimgetragen und Winterlang sind sie Nahrung, vielleicht auch der einzige Samen für die Zukunft. So ist es uns, wenn wir den Reichthum deutscher Dichtung in frühen Zeiten betrachten, und dann sehen, daß von so vielem nichts lebendig sich erhalten, selbst die Erinnerung daran verloren war, und nur Volkslieder, und diese unschuldigen Hausmärchen übrig geblieben sind.
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Wir übergeben dies Buch wohlwollenden Händen, dabei denken wir überhaupt an die segnende Kraft, die in diesen liegt, und wünschen, daß denen, welche diese Brosamen der Poesie Armen und Genügsamen nicht gönen, es gänzlich verborgen bleiben möge.
Cassel, am 18ten October 1810.
Die Brüder Grimm nehmen hier Bezug auf Bibelstellen, die dazu auffordern den Armen auf den Feldern Reste stehen zu lassen bzw. diesen nicht daran zu hindern die Reste einzusammeln.
Mit den „Armen” sind m.E. bildlich Menschen gemeint, die im Sinne der Bergpredigt (z.B. Selig sind, die da geistlich arm sind; denn das Himmelreich ist ihrer. Matthäus 5,3) fähig sind, das Wahrhaftige in den Geschehnissen und Dingen zu sehen. Also arm = frei sind an Denken, das rational oder irrational durch Äusserlichkeiten und Ego-Befriedigung getrieben wird (oder sich zumindest punktuell davon befreien können).
Diese Brosamen der Poesie (= Märchen) sind eine Segnung und die geistige Nahrung des Volkes.