Wilhelm Grimm, Heliand und Parzival

Die Brüder Grimm waren Philologen und gehörten zu den ersten Germanisten, welche die Wörter der deutschen Sprache in der Literatur bis ins Mittelalter zurückverfolgten. So erschien 1854 als ihr Hauptwerk (neben den viel bekannteren Kinder- und Hausmärchen) das „Deutsches Wörterbuch“, in welchem nebenbei gesagt das Wort „Glaube” 70 Seiten einnimmt.

Aus den Vorlesungs-Vorbereitungen von Wilhelm Grimm ist ersichtlich, dass er sich intensiv mit den beiden Epen „Der Heliand” (aus dem 9. Jhdt.) und „Parzival” (Wolfram von Eschenbach, 13. Jhdt.) befasste und ohne Zweifel darin auch die Bezüge zu den Märchen suchte.

Der Heliand

ist ein Epos, in welchem das Evangelium mit der germanischen Kultur verbunden ist. Der unbekannte Autor des „Heliand” versuchte, typische Elemente des alten Glaubens ind die christliche Botschaft hinein zu weben.

Wolfram von Eschenbachs

Parzival

ist ein bekannteres Epos, das sich in der Essenz um alle Formen der Liebe dreht. Das Ziel der Entwicklung des Helden Parzival, schon formal eine Entsprechung zum Lebensweg eines Märchenhelden, ist aber die bedingungslose, umfassende Liebe im christlichen Sinne.

Auch im Parzival finden sich viele Symbole aus den alten Religionen. Ein interessanter, von Wilhelm Grimm fett markierter Höhepunkt ist der Moment, wo Feirefiz der Muslim und Parzival der Christ realisieren, dass sie Brüder sind, also den gleichen Vater haben. Im übertragenen Sinne hält Wolfram von Eschenbach unmissverständlich fest, dass die beiden neuen abrahamitischen Religionen (und natürlich auch die alte, das Judentum) denselben Gott verehren. Damit entzieht er den Kreuzzügen und allen Religionskämpfen zwischen Juden, Christen und Muslimen offiziell jegliche Rechtfertigung (die es natürlich ohnehin nicht gibt).

Andere Stellen, die Wilhelm in seiner Parzival-Ausgabe markierte, sind Verse zum Thema, dass alles Göttliche Eins ist.

Markiert sind ferner alle Stellen über die Liebe als Führerin der Menschen (vergleiche Kondwiramur = die Liebesführerin).

Besondere Aufmerksamkeit schenkte Wilhelm ferner der Taube als Symbol des Heiligen Geistes, welche schon in den alten Kulturen Geist und Seele darstellte.

Schliesslich scheint Wilhelm bei seinen Bearbeitungen der Märchen auch Symbole aus dem Parzival übernommen zu haben, z.B. die 3 Blutstropfen im Schnee zu Beginn des Schneewittchens.

Nach Auffassung von G.R. Murphy, auf dessen Buch „The Owl, the Raven and the Dove” ich mich in diesem Artikel stütze, war Wilhelm Grimm besonders an der Verbindung von altem und christlichem Glauben in den mittelalterlichen Epen interessiert. Die KHM sollten deshalb in ähnlicher Weise die Mythen vorchristlicher Kulturen mit christlicher Spiritualität verbinden. Wilhelms zahlreichen, manchmal unerträglichen Kompromisse mit den im 19. Jhdt. herrschenden Vorstellungen über Moral und Tugend überdecken oft die eigentlichen spirituellen Wurzeln. Auf jeden Fall wird klar, dass Wilhelm mit den genannten Absichten die ihm zugetragenen Märchentexte und -Versionen äusserst intensiv bearbeitet hat. Die Volksmärchen sind deshalb nicht die Märchen aus dem Volk, sondern die Märchen für das Volk im Sinne der Vorrede zu den KHM.

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