Quellen:
- Steiner, Rudolf (1907), Mythen und Sagen.
- Lenz, Friedel (1984), Die Bildsprache der Märchen.
Die folgenden Überlegungen beziehen sich meiner Ansicht nach sinngemäss immer sowohl auf die Entwicklungsgeschichte der Menschheit wie auch auf die individuelle Entwicklung eines Menschen. Die Formulierungen geben mein Verständnis für die Ausführungen Steiners und Lenz‘ wieder und sind nicht wörtliche Zitate.
Der germanische Mythos berichtet vom Verlust des Einauges: Odin wollte aus dem Brunnen Mimir, dem Brunnen der Weisheit und des Verstandes trinken, musste aber dafür sein Auge als Pfand setzen, also auf die Hellsichtigkeit verzichten.
Bei Homer blendet der moderne Verstandesmensch Odysseus den Zyklopen Polyphem (Κύκλωψ = Kreisauge ↔ rundum sehend, Πολύφημος = vielgerühmt).
Zuerst hatte der Mensch nur das hellsichtige Auge. Dann kamen zwei für die Sinnenwelt geeignete Augen dazu. Und schliesslich bildete sich das Stirnauge zurück.
Der Einäuglein-Mensch ist hellsichtig, aber nicht denkend-verstehend. Es fehlen ihm die Sinneserfahrungen, die im Denken verarbeitet werden können.
Der Zweiäuglein-Mensch lebt in der Sinneswelt, entwickelt durch die sinnliche Wahrnehmung seine Vorstellungen, Begriffe und Ideen. Er kann die Welt denken.
Der Übergang 1→3→2 ist zunächst einmal eine Verarmung der Fähigkeiten. Aber die „alten“ Fähigkeiten stehen in dieser althergebrachten Form der Entwicklung des Menschen im Wege. Damit ist wohl nicht gemeint, dass Hellsichtigkeit heute etwas Negatives sei.
Im Märchen wird diese Verarmung durch schlechte Kleider und mangelhafte Nahrung (Hunger) für das Zweiäuglein dargestellt.
Vorbedingung für eine Wandlung/Entwicklung ist der Schmerz. Zweiäuglein weint vor Hunger ganze Bäche von Tränen.
Die Alte als Helferwesen entspricht (subjektstufig) dem schlummernden Wissen (Ahnung) des Zweiäugleins.
Die Ziege ist ein Symbol für Neugierde, naive Wissensbegierde ohne grosse Reflexion. Sie verschafft dem Zweiäuglein die Nahrung für die erste Stufe der geistigen Entwicklung.
Das Einäuglein schläft und sieht nicht, was läuft. Solange wir nur Tagträumer sind, entwickeln wir uns nicht.
Das Dreiäuglein hingegen hat alle Fähigkeiten und sieht deshalb, was läuft. Aber es ist noch bestimmt vom überkommenen Entwicklungsstand. Die Mutter als Bewahrerin des Alten, Rückwärtsgewandten tötet die Ziege, welche die Entwicklung nach Vorne ermöglichen würde.
Der Tod der Ziege ist ein schmerzlicher Verwandlungsschritt zur nächsten Entwicklungsstufe. Der wunderbare Baum, der sich aus den Eingeweiden der Ziege „aufbäumt“, hat gleich eine mehrfache Symbolik. Bäume sind Symbole für das Nervensystem und für grosse Wachstumskräfte. Silber und Gold (Mond und Sonne) deuten auf die hohe Qualität und die Vollständigkeit der Wahrnehmung hin, die goldenen Äpfel auf die höchste Form der Erkenntnis (siehe Paradies im AT).
Die alten Wesen (Einäuglein, Dreiäuglein) können die Früchte dieses Baumes nicht ernten. Diese sind dem erkennenden, „modernen“ Zweiäuglein vorbehalten.
Schluss: Das Weibliche (Zweiäuglein, Eva) hat die Frucht genommen. Sie muss diese dem Männlichen (Ritter, Adam) reichen, damit der ganze Mensch verwirklicht wird.
Die Schwestern versuchen noch zu verhindern, dass Zweiäuglein „erkannt“ wird (Fass = Einengung, Dunkel, Verstecken). Aber Zweiäuglein hat unterdessen genügend Willenskraft entwickelt, um selbstbewusst in Erscheinung zu treten.