Betrachtung zu „Sechse kommen durch die ganze Welt“ KHM 71
Schon im Titel kommt die Bezeichnung Sechs vor, und nicht etwa “Der Soldat und seine 5 Diener” oder so ähnlich. Damit wird gesagt, dass die 6 wirklich ein Team (siehe unten) bilden und nur gemeinsam „durch die ganze Welt kommen“ können.
„Die ganze Welt“ symbolisiert dabei „das ganze Leben“.
Die Zahl 6
6 = Hälfte von 12, der irdische Teil der Vollkommenheit.
6 ist deshalb schon fast 7.
6 Schöpfungstage mit „physischer“ Arbeit, dann folgt der 7.Tag, der heilige Tag für die geistige Arbeit.
Der Sechsstern (der eigentlich aus zwei übereinandergelegten Dreiecken besteht) ist ein wichtiges Symbol in vielen Religionen (Hinduismus, Judentum u.a.) und geistigen Strömungen (Gnosis, Alchemie u.a.)
In der Mathematik ist die 6 eine sogenannte vollkommene Zahl:
1+2+3 = 1x2x3 = 6
6 ist auch die Kusszahl der 2. Dimension (siehe Abbildung rechts).
Im Märchen kommen ferner die Zahlen 16 und 7 vor
16 x 10 Männer bringen die erste Tonne Gold;
7000 Wagen dann die letzte Ladung.
Während die 7 (hier „potenziert“ zu 7000) oft vorkommt, ist mir die 16 in den Märchen nicht geläufig.
Die 7 symbolisiert oft, und hier auch passend: Vollendung und Vollkommenheit.
Die 16 könnte schlicht als 2. Potenz von 4 betrachtet werden, also Potenzierung des „irdischen Anfangs“. Im Rosenkreuzertum spricht man von den vier mal vier philosophischen Elementen. 16 wird in Gesellschaftsmodellen manchmal als Eintrittsalter zum Erwachsenenleben gesehen.
Märchentyp
Märchentyp AT: 513: „Aussergewöhnliche Begleiter“ (ungewöhnliche Kameraden oder Diener als fantastische Helfer).
Spezieller Märchentyp: 513A „Sechse kommen durch die Welt“.
Verwandter Märchentyp: 513B „Schiff zu Wasser und zu Lande“.
Obwohl in einer Zaubermärchen-Kategorie eingeteilt, weist der Märchentyp auch viele schwankhafte Elemente auf.
Motive aus alten Quellen
- Epische Sage aus dem griechischen Altertum: Argonautensage. (Jason und seine Helfermannschaft).
- Sage von Atalanta: Prinzessin, die schnell laufen und auch gut ringen und Pfeilbogen schiessen kann.
- Epos aus dem frühen Mittelalter: „Culhwch und Olwen“ (Artus-Ritter als Helfer).
- Das Märchenmotiv ist in vielen Variationen im ganzen eurasischen Raum bekannt.
- Den Hitze-Test finden wir auch in der Bibel: „Die drei Männer im Feuerofen“, Daniel Kap. 3.
Es handelt sich offensichtlich um eine Einweihung für eine höhere Daseins- und Wirkstufe. Und in der „Zauberflöte“ (als Oper von W.A. Mozart bekannt) gehört der Weg durch das Feuer zu den Prüfungen auf dem Einweihungsweg. Diese Transformation beinhaltet nicht wie das Phönix-Motiv die Vernichtung im Feuer als Durchgangsstation zur Wiedergeburt, sondern „nur“ das Überleben in Feuerhitze.
Häufig wiederkehrende Elemente
in den Geschichten des Märchentyps 513A sind
- Der Märchenheld ist nicht ein Prinz, sondern ein „Mann aus dem Volke“, alleine zu schwach, bei Basile (Pentamerone 3,8) sogar ein Dummling.
- Die Helfer tun alles, sind seine treuen Diener.
- Die Helfer sind einseitig begabt und nur gemeinsam erfolgreich.
- Die Helfer sind Läufer, Starke, Horcher, Scharfseher, Scharfschützen, oft auch sehr bodenständige wie Säufer und Fresser, oder dann schon auf höherer Ebene wie der Bläser oder der Frostige.
- Die Königstochter muss vom Freier im Wettlauf besiegt werden. Oft geht es darum einen Krug mit Wasser von einem entfernten Brunnen zu füllen. Die Diener lösen diese Aufgabe.
- Der Läufer scheint zwar das Rennen problemlos zu gewinnen, macht aber auf dem Rückweg ein Nickerchen.
- Die Königstochter bedient sich zusätzlich tückischer Mittel, um den überlegenen Läufer zu besiegen.
- Der Auftraggeber (König) hält sein Abmachung trotz eindeutigem Erfolg des Märchenhelden nicht ein. Wie oft in anderen Märchen ist der „alte König“ überheblich, gewissenlos, vertragsbrüchig und gnadenlos grausam.
- Bei den Zusatzaufgaben und –prüfungen muss u.a. eine grosse Hitze ausgehalten werden.
- Anstelle der Königstochter nimmt der Märchenheld eine grosse Belohnung.
- Vom König nachgesandte Verfolger müssen besiegt werden.
Das Märchen im historischer Kontext der beginnenden Neuzeit
Ausgediente Soldaten sind immer aktuell, v.a. nach den grossen Kriegen in Europa (Hundertjähriger Krieg, Dreissigjähriger Krieg usw.)
Ebenfalls beliebtes Motiv seit dem Mittelalter: „Mann aus dem Volke besiegt Königshaus“. Und er vergisst auch nicht seine Herkunft, wenn er am Ende den armen Feldwebel schont.
Die Helfer als Diener
Der Märchenheld sammelt und findet Kräfte, um das Leben zu meistern. Er muss nur aufmerksam sein, wenn er den Richtigen begegnet.
Die Helfer haben wichtige physische, mit dem irdischen verbundene Eigenschaften, die natürlich auch mentale Stärken sind:
- Stärke,
- Treffsicherheit,
- Schnelligkeit.
Mehr auf dem mentalen Ebene ist der „Frostmann“ zu sehen, der auch „in heissen Situationen“ „kaltblütig“ ist, „einen kühlen Kopf“ bewahrt.
Und wie ist der Blaser zu verstehen ? Der Atem ist Träger geistiger Kräfte, der gedanklichen Freiheit, Vermittler zwischen verschiedenen Daseinsebenen.
Weitere Assoziationen beim Erarbeiten des Märchens
Der ausgediente Soldat bekommt nur 3 Heller Zehrgeld auf den Weg, aber er will ALLES. Seine Möglichkeiten, seine Erfolgsaussichten scheinen sehr beschränkt zu sein, obwohl er „brav und tapfer“ gedient hat.
Der Mann hat sich „brav und tapfer“ geschlagen, also auf der rein physischen Ebene ist er fit. Aber für die Bedrohungen auf der seelisch-geistigen Ebene ist er noch nicht gut gerüstet.
Er geht voller Zorn in den Wald und findet dort seine zwei ersten Gefährten. Er geht „in sich“ und findet auf seine eigenen Kräfte und Qualitäten (siehe oben: Die Helfer als Diener).
Ganz unvermittelt taucht im Märchen gelegentlich die Bezeichnung „Herr“ für den „Mann“ auf. Es sieht fast nach sprachlicher Nachlässigkeit aus, was für die Brüder Grimm aber ganz sicher nicht zutrifft. Der Märchenheld wird also allmählich „Herr seiner Kräfte“.
Für einmal gilt es nicht, eine Königstochter zu erlösen, sondern im Wettkampf zu besiegen. Die weiblichen Anteile des Märchenhelden scheinen nicht unerlöst zu schlummern, sondern sich vielmehr ungestüm bemerkbar zu machen. Ihre Integration bedeutet offenbar der weiblichen Kräfte in sich „Herr zu werden“.
Im Wettlauf zum Brunnen zeigt es sich, wer „aus der Seele schöpfen“ darf, bzw. das Wasser heimbringt. Die durch die Königstochter dargestellten Kräfte sind so stark und dem Märchenhelden explizit „feindlich“ gesinnt, dass es ihn fast „den Kopf kostet“, weil sie sich seiner Seele bemächtigen.
Die Königstochter, symbolisch auf einer „niederen Ebene“ angesiedelt, kann hier nicht das erstrebte Ziel sein, sondern in diesem Märchen symbolisiert das Gold, und erst noch alles Gold des Landes, das Höchste.
Am Ende muss auch der König die Stärke und die Unzerstörbarkeit des Mannes, der „Herr“ ist über seine Kräfte anerkennen: „Die haben etwas an sich“.
Die vielen schwankartigen Elemente geben diesem Lebensweg-Märchen eine gewisse Leichtigkeit. Die Dramatik des, letztlich seelisch-geistigen, Überlebenskampfs des Märchenhelden wird besser aushaltbar.
Teambildung für ein Projektziel
Der Märchenheld/Teamleader kommt unfreiwillig in eine neue Lebensphase, weil er nicht nur seinen Job verliert, sondern sein ganzer Berufsstand ausgedient hat.
Er hat ein klares Ziel, wenn auch kein sozial besonders korrektes: Rache und Bereicherung.
Seine Wahrnehmungsfähigkeit ist gut. Er erkennt sofort das Potenzial seiner Helfer.
(Dies im Gegensatz zum König, dessen Wahrnehmungsfähigkeit verblendet ist.)
Die Helfer sind seine Diener. Es ist also kein Team von völlig Gleichberechtigten, sondern die Helfer werden verpflichtet.
Die Teammitglieder werden nur aufgrund ihrer Fachkenntnisse ausgelesen. Es spielt keine Rolle, dass sie etwas merkwürdige Typen sind.
Ihre Motivation wird nicht weiter hinterfragt (Motivation wird in den Märchen sowieso nur selten thematisiert, z.B. in Goldmarie und Pechmarie).
Die Teamzusammensetzung ist auf Unvorhersehbares ausgelegt. Für keinen der Teammitglieder ist die Rolle bekannt.
Am Ende wird der Lohn geteilt und das Team geht auseinander. Das Projekt ist abgeschlossen.