Die Märchenerzählerin und der Märchenerzähler haben auch Wünsche. Und ich bin überzeugt, dass diese mit in die Erzählung einfliessen und irgendwann Bestandteil des Märchens werden.
Auch die Wünsche der Zuhörerinnen und Zuhörer werden im Märchen abgeholt. Armut, Kinderlosigkeit, ungerechte Behandlung durch Obrigkeiten sind Themen, die den Zuhörenden auch bekannt sind. Natürlich interpretieren wir sie auf der geistigen Ebene (oder auch nur auf der psychologischen), aber emotional gehen wir alle mit solchen Minderwertigkeitsgefühlen und Mangelerfahrungen in Resonanz!
Die Zaubermittel und „übernatürlichen“ Fähigkeiten faszinieren uns, zumindest unbewusst: Die Siebenmeilenstiefel vervielfachen unsere Schnelligkeit, die Fähigkeiten der Gefährten in „Sechse kommen durch die ganze Welt“ machen uns mächtig.
Die machtvollen Helfer kommen, wenn wir sie in der eigenen Machtlosigkeit rufen: „Der Eisenhans“ hilft dem machtlosen jungen Prinzen, „der gestiefelte Kater“ seinem Herrn. Wer hat sich nicht schon solche Helfer gewünscht?
Das Märchen zeigt uns, dass es sie gibt! Wir finden sie vielleicht nicht im Äusseren, aber doch hoffentlich in uns selber!
Geradezu Programm war der Wunsch der Brüder Grimm nach sittlicher Erziehung der Leserinnen und Leser ihrer Kinder- und Hausmärchen. Die Märchen wurden in den 25 Jahren ihrer permanenten Bearbeitung immer wieder in dieser Richtung umgedichtet und weiterentwickelt.
Dazu noch ein Zitat von Goethe aus dem 6. Buch von Wilhelm Meisters Lehrjahren, wo er eine Tante Lothars aus ihrem Leben erzählen lässt („Bekenntnisse einr schönen Seele”):
“…, aber was hätte ich nicht gegeben, ein Geschöpf zu besitzen, das in einem der Märchen meiner Tante eine sehr wichtige Rolle spielte. Es war ein Schäfchen, das von einem Bauermädchen in dem Walde aufgefangen und ernährt worden war, aber in diesem artigen Tiere stak ein verwünschter Prinz, der sich endlich wieder als schöner Jüngling zeigte und seine Wohltäterin durch seine Hand belohnte. So ein Schäfchen hätte ich gar zu gerne besessen!”