Während wir als Individuen mit unserer bisherigen Strategie der Vereinfachung komplizierter Fragestellungen relativ erfolgreich waren, versagen wir vor den komplexen Problemen, deren Reduktion auf einfache Fragestellungen keinen Beitrag zum Verständnis liefert. Wir haben als Einzelne keinen Überblick über die Einflüsse der einzelnen Faktoren auf das Gesamte. Kollektive Intelligenz im weitesten Sinne ist da ein mit viel Hoffnnug verbundener Ansatz. Voraussetzung dafür ist der Verzicht des Individuums, alles durchschauen, alles im Griff haben zu können.
Das Internet und insbesondere die Web 2.0-Tools haben das Potenzial, Wissen zu “demokratisieren”. Auch wenn mir als “altem Naturwissenschafter” sich dabei die Rückenhaare kräuseln, wie ich in einem früheren Beitrag ausgeführt habe.
Die Community bestimmt letztlich, was richtig ist. Ein darwinistischer Prozess, könnte man sagen.
In diesen Kontext passt der Begriff der Schwarmintelligenz, zu dem ich bei Beat Döbeli eine Definition von Peter Kruse gefunden habe:
“Der Begriff “Schwarmintelligenz” wird von Peter Kruse folgendermassen definiert:
“Schwarmintelligenz ist im Prinzip eine Form der Selbstorganisation, bei der relativ unintelligente einzelne Elemente sich über Regelwerke zu übergreifender Ordnungsbildung vereinen.”
Damit ist aber noch nicht alles über die Qualität dieser Intelligenz ausgesagt. Vor allem nicht, was diese Intelligenz leisten kann. Schwarmintelligenz wäre also eine Art primitive kollektive Intelligenz (das ist nicht wertend gemeint). Als wesentliches Unterscheidungsmerkmal erscheint mir da die Frage, ob die Intelligenz auf ein Entwicklungsziel hinwirkt oder sich mit der Freude des “Kollektiv seins” begnügt.
Auch in der Methodik des Wissensmanagements spielt die Schwarmintelligenz eine grosse Rolle. Prominentes Beispiel ist die Open Space-Methode von Harrison Owen. Regina Schlager weist in der Rezension eines Buches darauf hin, dass der Umgang mit Nichtwissen ein ideales Feld für diese Methode ist (Andreas Zeuch (Hrsg.): Management von Nichtwissen in Unternehmen).
Und wie halten es die Märchenheldinnen und Märchenhelden ?
Die meisten von ihnen sind Individualisten, die ihre eigenen Erfahrungen machen wollen (müssen, dürfen). Sie vertrauen auf ihre innere Führung mehr als auf die Stimmen von Aussen. Mit Märchenbeispielen kommen wir der Schwarmintelligenz wohl nicht näher. Komplexe Problemstellungen beantworten die Märchenheldinnen und Märchenhelden mit relativ einfachen Strategien ohne Vollständigkeitsanspruch. Sie nutzen ihre Kernkompetenzen. An die Stelle der oben erwähnten primitiven Intelligenz setzen sie Flexibilität im Denken und Handeln, sowie emotionale Kompetenz.
Nur die alten Könige haben den Anspruch, alles im Griff zu haben (und müssen entsprechend abdanken, wenn sie es nicht schaffen, wenn ihnen die Äpfel aus dem Garten geklaut werden, wenn sie keine Nachkommen haben usw.). Für die Ratschläge anderer sind sie erst empfänglich, wenn es ihnen ans Lebendige geht. Märchenkönige als Wikiautoren kann ich mir schlecht vorstellen.
Nachtrag: Märchenheldinnen und Märchenhelden nutzen die kollektive Intelligenz im Sinne der Weisheit der geistigen Welt. Siehe die Kommentare zu diesem Artikel.
Da sitzen nun zwei einsame Individualisten an einem großen runden Tisch, eingezwängt zwischen dumpfer Festlichkeit und resignativer Ausgelassenheit… aah, jetzt ein Blick ins Internet, was sagt die digitale Kollektive Intelligenz? das wäre die Erlösung… aber das verbietet die gute Erziehung… das wäre das endgültige Eingeständnis des Scheiterns am Gemeinsinn, jenem analogen Kollektiv, zu dessen Zelebrierung wir gekommen sind…
Wir. Wer ist wir? Bin ich wir? Oder ist wir etwas, was mich umgibt, wie die Watte den Taufschmuck im Schächtelchen meines Lebens.
Meine Stimme ist im Chor geschützt, auch wenn es immer meine Stimme bleibt. Aber die Stimme des Chores ist eben auch meine Stimme, wenn wir dort im Rampenlicht stehen; das Klavierspiel des kleinen Jungen auf der großen Bühne wird zu meinem Spiel und der bange Stolz seines Vaters zu meinem Stolz; die alberne Reaktion auf das peinliche Kleid der Tischnachbarin ist der Versuch, diese Pein, die uns durch deren zwangsläufige Kollektivierung quält, abzuwenden (hätte auch nur einer von uns einen Gedanken daran verschwendet, wären wir zufällig an der Szene vorbeigegangen?).
Ich sehe mich nicht mehr als Individuum, sondern eher selbst wie einen Ameisenvolk, deren Arbeiterinnen ständig umherwandern und neue Pfade legen, neue Ressourcen entdecken, neue Verbindungen schaffen. Die Grenze ist niemals definiert, Ameisen unter Ameisen, endlose Kolonien, globales Kollektiv, universales Wissen. Theoretisch; praktisch tragen die kleinen Ameisenbeine ja nicht so wahnsinnig weit, alles hängt davon ab, wie offen und geschickt wir miteinander kommunizieren: das müssen wir lernen!
Ich werde mir Zeit nehmen, um Deine spannenden Seiten zu lesen. Gibt es nicht in einigen Märchen, in denen der Held auf dem Weg zur Erkenntnis mit vielen Hindernissen zu kämpfen hat, die kleinen Helferlein, die noch eine Schuld begleichen müssen, die weisen Frauen, die ihr Geheimnis nicht mit ins Grab nehmen möchten, die Tauben, die beim Verlesen der Linsen helfen, die Zwerge, die sich streiten, wie mit der Prinzessin zu verfahren sei, Hinweise auf eine Kollektive Intelligenz?
Mit liebem Gruß
Bettina
Liebe Bettina, Danke für deine Gedanken, deinen Beitrag.
Du hast recht mit deiner Bemerkung im letzten Abschnitt. Die Heldinnen und Helden im Märchen zapfen immer von der kollektiven Intelligenz im Sinne der Weisheit der geistigen Welt, an welcher wir über das höhere Selbst Teil haben. Aber wie im Märchen, nur den wenigsten von uns gelingt das so einfach. Und deshalb braucht es alle die lieben Tierchen, alten Mütterchen, weisen Zwerge usw., die uns die Weisheit vermitteln, unsere innere Stimme für uns hörbar machen. Was ja angesichts der akustischen Umweltverschmutzung wirklich nicht so einfach ist.
Da kommt auch die ganze Geschichte von den Archetypen, der Entstehung der Symbole, der Entstehung der Märchen überhaupt herein. Die Märchen als bildhaft verpackte Botschaft aus der Welt der kollektiven Intelligenz (um bei der Begrifflichkeit des Artikels zu bleiben).
Im Sinne der Schwarmintelligenz könnte ich mir vorstellen, dass über das morphische Feld (oder wie Du das auch immer nennen magst) unser Denken und Handeln das kollektive Wissen vermehren könnte. Oder ist wirklich schon alles, alles da, und wir müssen es einfach abholen können?
Unser westlich geprägter Individualismus sträubt sich gegen den Gedanken, nur eine Ameise zu sein. Vielleicht unterscheidet uns nur das Bewusstsein von den Ameisen. Und die Fähigkeit, uns bewusst zu entscheiden, entgegen dieser Weisheit zu handeln und auf die Nase zu fallen. Und das Märchen sagt uns: “Auch wenn du das tust, bekommst du wieder eine neue Chance (siehe z.B. Der goldene Vogel, Brüder Grimm KHM 57).”
Gruss, Urs