Das Rottal auf der Südseite der Jungfrau gilt als Jenseitsort, ursprünglich als Paradies. Vor Zeiten soll daselbst eine “Blüemelisalp” gewesen sein.
Seit langem aber ist das Rottal weit bis ins Wallis sehr berüchtigt. Wenn man sich eine der wildesten Gegenden vorstellte, wo weder Menschen noch Vieh weilen können, so wurde das Rottal genannt.
Nicht nur sollte da ein unerträglicher Frost und in den Tiefen eine schreckliche Finsternis herrschen. Nicht nur sollte das Wasser ein fürchterliches Getöse verursachen und das Gekrächze der Raubvögel Furcht und Grauen einflössen. Es müssen dort Gespenster und unselige Geister ihr Wesen treiben, bald die Trommel schlagen, bald auf entsetzliche Weise heulen. Die schauerlichen Bewohner des Rottals zögen in gewissen Nächten bis ins Haslital.
Zauberkräftige Hexenmeister verbannten früher ruhelose Geister, die in den menschlichen Siedlungen ihr Unwesen trieben, ins Rottal.
Im Zuge der Dämonisierung der Natur und Landschaftsgöttinnen wurde das Rottal von den Priestern zum Ort der Verdammnis und der Busse umgedeutet:
Einerseits kommen dorthin die weibliche Seelen, die im menschlichen Leben ausserhalb der Konventionen lebten. Und dafür genügte es schon als Frau unverheiratet zu sein! Der Begriff „Jungfrau“ bedeutet ja „ausserhalb ehelicher Bande“ und hat mit biologischer Jungfräulichkeit ursprünglich nichts zu tun (höchstens in Männerphantasien).
Nach anderen Quellen werden ins Rottal solche verdammt, die im Leben Freveltaten verübten, namentlich die alten Talherren. Weil diese sich an den jungen Hirtinnen vergingen, wurden sie von einem ungeheuren Bock über die Felsen hinuntergestürzt. Zugleich wurde das Tal von herabstürzenden Firnen mit Eis aufgefüllt und so zerstört, dass es nichts mehr zu zeugen vermochte (nach Menzi 1935).
Die Wendung „nichts mehr zeugen“ stammt von Vernaleken (1858). Das Rottal wurde also durch die versuchte Vergewaltigung des unschuldigen Hirtenmädchens unfruchtbar. Ich deute das so, dass das Rottal ursprünglich ein weibliches Schossheiligtum gewesen ist (die Form und die Lage am Jungfrau würden dazu passen), in welchem durch die heilige Hochzeit der Landschaftsahnin immer wieder neues Leben entstand. Die Perversion der heiligen Hochzeit durch die Vergewaltigung der Jungfrau setzte dem ein Ende.
Etwas lieblicher ist die Kunde von den blonden Mädchen (Wetterfeen) die im Rottal ihre Zöpfe flechten und dabei das Wetter für das ganze Berner Oberland machen (Derungs 2009).
Auch wenn der Aufstieg auf die Jungfrau oder die Äbeni Flue vom Rottal her Standardklettertouren sind, das Rottal fordert immer wieder Opfer (Juli 2007).
Vernaleken, Theodor (1858), „Alpensagen“, Verlag R.W. Seidel.
Menzi, Walter (1935), „Sagen aus dem Berner Oberland“, Verlag Landschäftler.
Derungs, Kurt (2009), „Magische Quellen, Heiliges Wasser“, edition amalia.