Einige Gedanken zu den verschiedenen Arten von märchenhaften Geschichten:
Volksmärchen
Bei einem typischen Volksmärchen gibt es keine/n Urheber/in. Manchmal kann man seine Motive weit zurückverfolgen und sie in den spärlichen Aufzeichnungen von Geschichten aus der Zeit der alten Ägypter und Assyrer wiederfinden. Aus den meisten Kulturen der Welt fehlen uns frühe schriftliche Zeugnisse.
Selbst wenn ein Erstautor ausfindig gemacht werden könnte, die Evolution eines Märchens geschah und geschieht kontinuierlich und schnell: Märchen verbreiten sich in neue Kulturkreise und erhalten neue „Gewänder“ oder gar neue Motive. Märchenerzählerinnen legen ihre eigenen Schwerpunkte, kombinieren Motive aus verschiedenen Märchen. Neue Märchen entstehen so und verbreiten sich oder gehen vergessen. Der „Autor“ eines Volksmärchens ist also gewissermassen „das Volk“.
Obwohl ein Urhebertum für Volksmärchen nicht gegeben ist, würdige ich an Erzählanlässen oder in schriftlichen Beiträgen die grossen Sammler und Bearbeiter von Märchen als Quellenangabe. Ihnen ist es zu verdanken, dass die mündlich überlieferten Märchen eine literarische Form erhalten haben und auf diese Weise sich in den Stuben der Bürger, die Lesen und Schreiben konnten, trotz derer Entfremdung vom Volksgut etablierten. Märchen als Lesestoff waren und sind attraktiv, auch weil sie kurz, unterhaltsam, fantasieanregend sind und glücklich enden.
Die mündliche Tradition der Märchen verlagerte sich mit der Zeit zubehmend in die unteren sozialen Schichten. Damit erklären manche Märchenforscher/innen die starke Betonung des Erfolgswegs der „Armen“ und „Dummen“. Allerdings handelt es sich auch bei den Armen und Dummen oft um Königskinder (symbolisch für „in ihrem Ursprung vollkommene Wesen“), die einen Weg zur Wiedererlangung der Einheit suchen und finden. Märchen sind – auf welcher Ebene auch immer betrachtet – Utopien des Glücks.
Die Aufgaben, welche die Märchenheldinnen und Märchenhelden zu lösen haben, sind zumeist „unlösbar“ und oft mit Todesdrohungen verbunden. Die modernen Motivationstheorien und Coachingtechniken würden hier gar nicht helfen. Die Aufgaben erweisen sich aber als lösbar, weil genau (und oft erst) im richtigen Moment diejenigen Hilfen und Mittel zur Verfügung stehen, die dann nötig sind. Diese Zuversicht unter anderem macht Märchen zu einem idealen Lebensbegleiter.
Weibliche Gestalten, Märchenheldinnen sind statistisch häufiger als männliche. Man könnte spekulieren, ob das mit den Wurzeln der Märchenmotive in den matriarchalen Kulturen und Zeitaltern in Zusammenhang steht. Allerdings sind auch „die Bösen“ oft weiblich. „Als abgewandelte Gute“ (Mutter→böse Mutter/Stiefmutter, weise Frau→Hexe usw.) spiegeln sie vielleicht die Verteufelung des göttlichen Weiblichen in den darauffolgenden patriarchalen Zeitaltern.
Zaubermächtige oder allwissende Helferwesen und die entsprechenden hilfreichen Wundermittel sind in den Zaubermärchen etwas Selbstverständliches. Entsprechend selbstverständlich gehen die Märchenheldinnen und Märchenhelden damit um. Typisch ist auch das Eingreifen nicht menschlicher Gewalten bis hinein in den Alltag, der Auftritt archetypischer Gestalten (Zwerge, Riesen, Feen, Hexen, Drachen), redender Tiere, vezauberter Menschen in Pflanzen- und Tiergestalt.
Für die in „social correctness“ erzogenen Erwachsenen ist ein weiteres typisches Element der Volksmärchen, die Belohnung der/des Guten – Bestrafung oder gar Vernichtung der/des Bösen manchmal fast unerträglich.
Im Volksmärchen erfahren wir – im Gegensatz zu einem Kunstmärchen – wenig über die Gefühle der Märchenheldinnen und Märchenhelden. Auch die Überlegungen und Pläne, die zu einem bestimmten Handeln führen, bleiben oft verborgen. Sie zweiflen nie und wundern sich selten über das was ihnen zuteil wird. Die Märchenheldinnen und Märchenhelden handeln einfach und gehen ihren Weg, meist ja von einigen Irrwegen bestimmt. Trotzdem bieten die Gestalten des Märchens mancherlei Identifikationsmöglichkeiten und Projektionsflächen, fordern unsere moralischen Denkweisen heraus.
Der Auftritt nicht menschlicher Gewalten in den Alltag und die Verwendung von Zauberkräften weist darauf hin, dass im Märchen die Grenzen zwischen der sogenannten Realität und dem „Wunderbaren“ aufgehoben sind. Es geht nicht „normal“ zu und her. Volksmärchen haben eine Vorliebe für Extreme und Übertreibungen. Eine Kausalität in unserem Sinne scheint es nicht zu geben. Das – zumindest für das Erwachsenenbewusstsein – Unglaubliche und Unwahrscheinliche wird als selbstverständlich integriert.
Bei den Volksmärchen werden Zaubermärchen und Schwankmärchen unterschieden. Ich will im Moment nicht mehr darüber schreiben – die Bezeichnunen sagen ja schon einiges aus.
Kunstmärchen
Kunstmärchen beginnen sich erst anfangs 19. Jhdt zu entwickeln. Dichter schaffen bewusst neue Märchengeschichten, unter Verwendung der Symbolik und typischen Strukturelementen von Volksmärchen. Die für den Dichter charakteristische Sprache wird mit der Sprache tradierter Märchen gemischt. Die Gestalten sind oft psychologisch feiner gezeichnet. Beim Leser oder Zuhörer werden stärker Gefühle provoziert. An die Stelle des des derben Humors eines Schwankmärchens tritt feine Ironie, Satire und nicht selten explizite Gesellschaftskritik. In der Regel haben die Kunstmärchen auch eine klare „erzieherische“ Botschaft. Schön sind die Kunstmärchen alleweil.
Bekannte Märchendichter sind bei uns Hans Christian Andersen und Wilhelm Hauff. In der Epoche der Romantik haben nach J.W. von Goethe fast alle bekannten Dichter Kunstmärchen geschrieben. Kunstmärchen wurzeln viel Stärker als die Volksmärchen in den geistigen und moralischen Strömungen ihrer Entstehungszeit (Romantik, Bürgertum). Heutige Märchendichter/innen stehen wie etwa Manfred Kyber stark in dieser Tradition oder versuchen wie Anni Swan die Erzählweise alter Volksmärchen zu aufzunehmen.
Die Märchensammlungen der “klassischen” Autorinnen und Autoren (Brüder Grimm, Straparola, Basile, d’Aulnoy usw.) sind auch nicht einfach schriftliche Protokolle von mündlichen Erzählungen. Alle diese Autorinnen und Autoren haben ihre Märchen intensiv bearbeitet und gestaltet, inhaltlich und sprachlich. In letzter Konsequenz muss man also auch diese Märchensammlungen als Kunstmärchen bezeichnen.
Fabeln
sind witzige bis komische Gleichnisse. Das Typische in den Fabeln sind Tiere, die wie Menschen reden und sich verhalten. Die Tiere treten stellvertretend für Menschen auf und erlauben so mit etwas verfremdender Distanz Kritik an den Menschen. Fabeln enthalten immer eine abschliessende Moral, praktische Lebensweisheiten oder auch handfeste Gesellschaftskritik. Fabeln sind wegen ihrer Moral und Lebensweisheit auch typischer Schulstoff. Wer hat nicht in seiner Schulkarriere rezitiert “Maître Corbeau, sur un arbre perché, tenait en son bec un fromage. Maître Renard, …” ?!
Sagen
Sagen haben einen engeren Bezug zur für alle nachprüfbaren Wirklichkeit. Sei nehmen Bezug auf bestimmte Orte, Begebenheiten oder historische Personen, was ihre Wahrheit beglaubigen soll. In den Sagen sind meist historische Kerne verborgen, die zum Beispiel auch den Geschichtsforschern Hinweise auf sonst nirgends dokumentierte Facts geben können. Man könnte die Sagen als eine Art volkstümliche Geschichtsschreibung betrachten, die besondere Ereignisse aus der Sicht der betroffenen Menschen darstellen. Manchmal soll auch einfach etwas „erklärt“ werden (auf die „grossen Fragen“ geben dann allerdings die Mythen Antwort). Sagen erzählen von der Auseinandersetzung mit der Umgebung, der Natur, der historischen Realität oder der Anderswelt. Im Gegensatz zum Märchen ist das Übernatürliche zwar auch allgegenwärtig, aber eher Angst einflössend als hilfreich. Die Sagenheldinnen und Sagenhelden gehen selten als strahlende Gewinner aus den Begegnungen mit dem Übernatürlichen hervor. Das erlösende Happy end ist in den Sagen kein Standard.
Meine Blog-Beiträge zum Thema Sagen.
Mythen
Mythen liefern religiöse Erklärungen für „die Welt“. Statt menschlicher Heldinnen und Helden treten Gottheiten und Halbgötter auf. Menschen erscheinen eher als Marionetten oder stellvertretende Akteure auf der Erde.
Typische Fragestellungen, die Mythen beantworten sind: „Wie entstand die Welt ?“ „Woher kommt das Böse ?“ Warum gibt es das Weibliche und das Männliche ? (und andere Gegensatzpaare wie hell und dunkel, flüssig und fest, usw.). Mythen sind heilige Erzählungen, die ja auch eine Grundlage der heiligen Bücher aller Religionen bilden.
Legenden
sind religiös geprägte Erzählungen, die aus dem Leben bestimmter Personen (z.B. der Heiligen) erzählen. Sie sollen oft eine erzieherische Wirkung erzeugen oder religiöse Dogmen „beweisen“.
Meine Blog-Beiträge zum Thema Legenden.
Sinngeschichten
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Novellen mit Märchenmotiven und -symbolik
(noch kein Text dazu) [Zurück zum Anfang]