Der Reichtum der mittelalterlichen Theologie kommt aus der Betrachtung des sogenannten vierfachen Schriftsinns:
- der buchstäbliche, wortgetreue Sinn,
- der allegorische, metaphorische Sinn, aus dem sich auch Dogmen ableiten,
- der moralische („tropologische”) Sinn und
- der eschatologische (oder „anagogische”) Sinn, der auf die Vollendung des Einzelnen oder der ganzen Schöpfung hinweist.
Die Parallelität zur Betrachtung von Märchen auf allen Sinn-Ebenen ist unübersehbar und auch nicht zufällig. Beim Betrachten von Märchen bewegen wir uns auf analogen Ebenen. Damit soll in keiner Weise eine Anwendung der alten Bibeltext-Interpretationsmethode “Vierfacher Schriftsinn” auf Märchen angesagt werden. Auf die Märchenbetrachtung “übersetzt” könnte das etwa so heissen:
- buchstäblich, wortgetreu,
im Bewusstsein, dass wir nur eine in Schrift erstarrte Momentaufnahme der mündlichen Tradition des Märchens vor uns haben. Auch der Wortlaut der Bibeltexte wurde schliesslich irgendeinmal festgelegt und auch immer wieder aufgrund unterschiedlicher Quellen oder in neuen Übersetzungen neu formuliert.
Die positive Seite dieser Betrachtungsweise: Wir können uns bei einem Märchen ganz dem Genuss des Fabulierens hingeben und uns in Einzelfällen, wie bei Wilhelm Grimm, auch an einer guten Dichtersprache erfreuen, die sogar das wörtliche Rezitieren von Märchentexten rechtfertigt.
Die negative Seite ist die Fixierung der Interpretation auf bestimmte Wörter, die aus dem Kontext des Märchens und erst recht aus dem Kontext der kulturhistorischen Tradition herausgerissen werden. Diese Praxis finden wir vor allem in der psychoanalytischen Märcheninterpretation. - symbolisch:
Da blickt das kulturelle Erbgut durch die Erzählung hindurch. Die Symbole helfen uns zu verstehen, weshalb was in uns welche Gedanken und vor allem Gefühle in Resonanz bringt. Zu dieser Betrachtungsweise hat vor allem die Jung’sche Psychologie viele Hinweise zu Tage gefördert.
Viele Symbole, auch die Tierhelfer usw. wurzeln in den totemistischen und schamanistischen Kulturen unserer Vorfahren. - objektstufig
sehen wir die Figuren des Märchens als individuelle Gestalten, mit denen wir uns oft in Sympathie und Antipathie verbinden. Dabei spielen unsere moralischen Wertvorstellungen eine grosse Rolle. Umgekehrt soll unsere Moral im erzieherischen Sinne durch die vorbildliche Haltung der Guten und die Bestrafung der Bösen gehoben werden.
Für das letztere taugen Märchen genau betrachtet allerdings nicht oft, denn die Helden und Heldinnen lügen, überlisten, töten usw. und stellen sich auf ihrem erfolgreichen Lebensweg selten ethischen Fragen. Am Ende siegt immerhin „das Gute” und „das Böse” wird bestraft oder gar vernichtet.
Die “Biblische Geschichte und Sittenlehre”, wie sie in meiner Kindheit als Schulfach vermittelt wurde, steht ganz in dieser Tradition. - subjektstufig
sehen wir die Figuren des Märchens als Aspekte eines Individuums, die einerseits als Ressourcen zur Verfügung stehen und anderseits zu integrieren sind. Auf dem Lebensweg gilt es also GANZ zu werden, seine einseitige Existenz mit den Kräften des Unbewussten, mit der Intuition, mit dem Intellekt, mit den gegengeschlechtlichen Aspekten (animus-anima) usw. zu vereinen. Von dieser stark durch die Jung’sche Psychologie gestützten Interpretationsweise ist es eigentlich nur ein kleiner konsequenter Schritt zur
spirituellen Bedeutung des Märchens, wo es um das „ganz werden” im Sinne des Einswerden mit dem Göttlichen geht.
Vor allem aus den letzten zwei Betrachtungsweisen können wir sehr hilfreiche Zuversicht schöpfen. Märchenhelden müssen auf ihrem Weg immer „unten durch” bis es, oft erst ganz am Schluss, „aufwärts” geht. Oder sie dürfen Fehler machen noch und noch, und es wird ihnen trotzdem geholfen.
Für meine persönliche Märchenarbeit beachte ich alle diese Ebenen. Beim Erzählen spreche ich ja mit meinen Geschichten alle Ebenen an und kann durch meine Erzählweise (eine Interpretation analog zum Aufführen eines musikalischen oder dramatischen Werkes) auch die eine oder andere Ebene stärker betonen.
Beim Betrachten von Märchen lasse ich die verschiedenen Ebenen nebeneinander bestehen und lasse mich nicht auf die oftmals grotesken eindimensionalen Deutungen ein, wie sie in der Märchen-Interpretationsliteratur z.T. auftreten. Und Eklektizismus finde ich als Märchenmensch sowieso spannender und farbiger als ein schön konsistenter Dogmatismus.