Zu einem Vortrag/Aufsatz des Neurobiologen Gerald Hüther für den Kongress der Europäischen Märchengesellschaft EMG in Bad Karlshafen 2005. >>>Text auf Hüthers Webseite>>> und als PDF>>>.
Bruno Bettelheim (1903-1990) schrieb 1976 das zumindest als Titel bekannte Buch „Kinder brauchen Märchen“. Bettelheim befasst sich mit den Märchen aus psychoanalytischer Sicht.
Aus seiner Lebenserfahrung in den Zeiten des Faschismus und der totalitären Staaten ergänzte er die Psychoanalyse Freuds durch die Analyse des Einflusses der Massengesellschaft auf die Entwicklung und folgerte dabei, dass der zentraler Punkt im Erreichen von Autonomie die Überwindung von Angst sei (Autonomy in a Mass Age, 1960).
Märchen sind als positive Vorbilder und Lebensgeschichten eine wichtige Hilfe zur Erlangung von Autonomie.
Einen anderen Zugang hat Gerald Hüther in seinem doch mehr als 6 Jahre alten Referat.
Betrachten wir aber zuerst Gerald Hüthers aktuelle Terminologie für Veränderungsprozesse im Menschen: „einladen — ermutigen — inspirieren“ (Was wir sind und was wir sein könnten – ein neurobiologischer Mutmacher, 2011).
Dafür sind Märchen ein geradezu ideales Vehikel.
Märchen oktruieren nichts auf, sie laden ein, sich auf diese Welt, diese Geschichte einzulassen, sich mit den Protagonisten und ihrem “Schicksal“ auseinanderzusetzen und fürs eigene Leben zu nehmen, was man bewusst oder unbewusst als hilfreich betrachtet.
Märchen ermutigen auch in schwierigen Lebensphasen, Vertrauen zu haben und mit Zuversicht in die Zukunft zu schauen.
Märchen geben selten im Alltag praktikable Handlungsanweisungen, aber sie inspirieren dazu, mutig neue Wege zu beschreiten, Handlungsweisen auszuprobieren und Erfahrungen zu machen.
Zurück zum Vortrag Hüthers von 2005:
Zuerst einmal würdigt er die Tatsache, dass Kinder beim Märchenhören in der Regel ruhiger, ihre Fantasie angeregt und ihr Sprach- und Bilderschatz erweitert werden.
Es lernt zweitens, sich in andere hineinzuversetzten, Empathie zu haben und drittens gleichzeitig selber mit Vertrauen, Mut und Zuversicht gestärkt zu werden.
Viertens definiert er Märchenhören als Lernen an sich. Dieser Punkt wird vielleicht im Licht von Hüthers aktuellen Arbeiten klarer:
Hüther spricht anstelle von Lernen lieber vom Erfahrungen machen, diese zu Haltungen verdichten und als Grundlage von Denken und Handeln zu nutzen. Wirksame Erfahrungen haben zwingend immer eine kognitive und eine emotionale Dimension. Volksmärchen bieten beides ausgewogen dar. Märchenverfilmungen aber auch manche Kunstmärchen übersteigern gerne die Emotionen. Zeitgenössische Kunstmärchen bleiben oft in der kognitiven Belehrung lustlos stecken.
Hüther legt auch Wert auf die Umstände des Märchen erzählens. Auch die Doppelwirksamkeit des Märchenerzählers/der Märchenerzählerin auf der kognitiven und auf der emotionalen Ebene sind wichtig. Ebenso wie ein geeigneter Rahmen, der zum Beispiel auch in potenziell Angst auslösenden Märchenpassagen Geborgenheit möglich macht, oder zur Aufmkersamkeit und Konzentration beiträgt.