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Märchen und Traum

 

Henri Rousseau: Der Traum (1910)

 

„Ich brauche nicht zu beweisen, dass meine Traumdeutung richtig sei – ein ziemlich aussichtsloses Unterfangen -, sondern ich muss bloss mit dem Patienten zusammen das Wirksame suchen – beinahe wäre ich versucht zu sagen, das Wirkliche.“ (C.G. Jung)

 

“Der Traum, der nicht interpretiert wird, gleicht einem Brief, der nicht gelesen wird.” …
“Ein Traum ist eine Miniatur-Prophezeiung”

(Rabbi Hisda, Babylonischer Talmud, Berachot 55a)

 

 

Was ist Wirklichkeit ?
„Ich habe letzte Nacht geträumt, ich sei ein Schmetterling. Jetzt weiss ich nicht, ob ich ein Mensch bin, der träumt, er sei ein Schmetterling, oder ob ich vielleicht ein Schmetterling bin, der jetzt träumt, er sei ein Mensch.“
(Chinesischer Dichter)

 

Beitrag über Träume in Märchen >>.

 

Spätestens seit den Arbeiten C.G. Jungs ist es deutlich geworden, dass Märchen und Träume dieselbe Sprache sprechen. Die von Jung begründete „Komplexe oder Analytische Psychologie“ geht davon aus, dass es ein “kollektives Unbewusstes” gibt, das sich in Träumen und Märchen symbolhaft spiegelt.

Sigmund Freud, Stanley Hall und Carl Gustav Jung sitzen vor der Clark-Universität (Worcester, Massachusetts)

Beim Thema Traum und beim Thema Märcheninterpretation kommen wir um die beiden grossen Psychoanalytiker des 20. Jhdts., um Sigmund Freud und Carl Gustav Jung nicht herum. (links bzw. rechts vorne auf der Photographie). Deshalb sollen sie in den folgenden Gedanken auch ausführlich gewürdigt werden (immer mit dem Vorbehalt, dass ich ein Märchen-Mensch und nicht ein Psychologieexperte bin). Wichtig ist aber auch der Beitrag von Erich Fromm, der eine Synthese der Gedanken Freuds und Jungs versuchte und mit seiner eigenen humanistischen Sozialpsychologie verband.

Meiner Auffassung von Märchen kommen allerdings Jung’s Theorien wesentlich mehr entgegen. 

 


Vergleich von Märchen und Traum

Märchen richten sich an alle Menschen, indem sie wichtige Wahrheiten über das Leben und Hilfen und Zuversicht für den Lebensweg jedes Menschen anbieten. Natürlich immer im Kleid und Schmuck der Kultur, in welcher das Märchen überliefert wird. Märchen sind der reinste und einfachste Ausdruck kollektiv-unbewusster psychischer Prozesse. Das Märchen selbst ist seine eigene beste Erklärung. Seine Bedeutung ist in der Gesamtheit  seiner Motive, die durch den Handlungsfaden verbunden sind, enthalten. Nach C.G. Jung ist das zentrale Thema des Märchens „Das Selbst“, im Sinne der psychischen Gesamtheit eines Menschen und gleichzeitig als Regulationszentrum des kollektiven Unbewussten.

„Jung hat festgestellt, dass Märchen verschiedener Kulturen sehr viel gemeinsam haben. Die seelischen Tiefenschichten, die sich sowohl in Märchen wie auch in Träumen Ausdruck verschaffen, stellen ein Feld dar, das uns mit allen Menschen verbindet. Die Märchen sind für Jung ein Spiegel, in dem wir unser eigenes Leben mit seinen verschiedenen Stationen, seinen Wünschen, seinen Kämpfen und Auseinandersetzungen gespiegelt finden und an dem wir uns orientieren können. Die Muster betreffen wirklich unser Leben.“ (Pater Bruno Lautenschlager in einem Interview)

Träume sind eher etwas persönliches, auf das Leben des einzelnen zugeschnitten, auch wenn sie die Bildsprache des kollektiven Unbewussten verwenden. Marie-Louise von Franz beobachtete: Wenn man sich mit Märchen intensiv befasst und nicht überzeugt ist, alles verstanden zu haben, kommen einem Träume zu Hilfe. Das Unbewusste reagiert folglich sogar auf die Märchen. Jolande Jacobi schrieb: “Wir vermögen die Mythen und Märchen, die wir im Wachsein lesen, im Traum zu erleben, wie wenn sie wirklich wären, …”

Verena Kast in einem Vortrag über C.G. Jung: „So ist es möglich, in Traumbildern, die für uns ganz persönlich bedeutsam sind, die auch mit Strukturelementen angereichert sind, die nur aus unserer persönlichen Lebensgeschichte heraus verstehbar sind (Komplexe), auch Grundstrukturen, Bilder zu finden, und damit auch Emotionen, die in der Geschichte der Menschheit gekannt, immer wieder thematisiert und dargestellt worden sind. Dies entspricht der Idee, dass wir Menschen eben typisch menschliche Schwierigkeiten, typisch menschliche Bilder, Erlebnismöglichkeiten, Emotionen, Verhaltensweisen kennen, die allerdings auch von der je eigenen individuellen Erlebens- und Verhaltensweise, aber auch von der gesellschaftlichen Situation, der Zeitgeschichte, in der wir leben, überlagert sind. Wir sind also immer auch mehr als unsere Lebensgeschichte.“

Das Märchen stellt meiner Ansicht nach gerade dieses typisch Menschliche losgelöst vom Individuellen (und auch losgelöst von konkreter Zeit und Geographie dar).

Eine symbolische Geschichte ereignet sich in Raum und Zeit, aber muss nicht unseren Gesetzen von Raum und Zeit gehorchen. Die Abfolge ist zwar sequentiell, aber nicht in unserem Sinne logisch, obwohl eine fast zwingend erscheinende verborgenene Logik („latente Logik“ bei E. Fromm) besteht, die uns in den Märchen immer wieder überrascht.

Ich würde die Gedanken der Schule C.G. Jungs zu Träumen und Märchen vereinfacht so zusammenfassen:
Märchen sind ein Ausdruck kollektiv-unbewusster psychischer Prozesse. Träume sind ein Ausdruck individuell-unbewusster psychischer Prozesse. Beide verwenden dieselbe Bildsprache des kollektiven Unbewussten.

Jung selber war sich sicher, dass auch in den Träumen Wissen aus dem Kollektiven auftauchen. Wie soll man sonst die Wirkung von Träumen als Ratgeber oder gar prophetische Träume verstehen? Jung sieht im Traum eine umfassendere Manifestation des Unbewussten, in der sich sowohl Vergangenes wie auch Zukünftiges zeigen können. Für Jung verfügt das Unbewusste sogar eine „Intelligenz und Zweckgerichtetheit …., welche der zur Zeit möglichen bewussten Einsicht überlegen sind.“ Jung sagt auch, dass dem Menschen nicht durch das, was er selbst denkt, geholfen werde, sondern durch die Offenbarung einer Weisheit, die grösser sei als seine eigene. Dies deckt sich sehr stark mit der heute sich (wieder) verbreitenden Erkenntnis, dass alles Wissen eigentlich schon vorhanden sei.

Jung wird allerdings insofern etwas einseitig, als er den Bezug zum aktuellen seelischen Leben des Träumers vernachlässigt.

Nur unter Berücksichtigung der Gegenwart wird der Traum zu einer Kraft, die das „angezapfte“ Wissen nutzen kann.  

Während wir schlafen, geben wir uns nicht damit ab, die Aussenwelt unseren Zwecken zu unterwerfen. Aber wir sind auch frei, befreit von den meisten Alltagslasten und befreit von den Gesetzen von Raum und Zeit. Das „Ich bin“ kommt zum Zuge. Wenn wir schlafen ist uns die Welt des Tages, die sogenannte Realität ebenso unbewusst wie uns im Wachzustand die Innenwelt ist (siehe chinesisches Zitat am Anfang).

Erich Fromm 1970Wenn wir wach sind müssen die Inhalte unseres Denkens nicht zwingend den Gesetzen von Raum und Zeit unterworfen sein (Phantasien, Gedanken zu Vergangenheit und Zukunft), aber die beim Denken verwendeten Kategorien sind es. Die Gedanken können Bilder verwenden, die völlig verständlich, aber nicht raum-zeit-logisch sind. Wir denken dann „als ob“. Der Traum aber kennt kein „als ob“.

Erich Fromm (Bild rechts) sagt: Wir sind in unseren Träumen nicht nur „weniger vernünftig und anständig“, sondern genau so oft auch klüger, urteilsfähiger und sozialer als im Wachen. Im Zustand des Schlafes tritt das Schlechteste und zugleich das Beste in uns in Erscheinung.

In unserem normalen Leben treten oft Ziele in den Vordergrund, die im Widerspruch zu denen des wahren Selbst stehen. Unsere höchste Energie, die Liebeskraft kommt nicht zum Zuge, so dass man z.B. Macht über andere zu gewinnen sucht. Die innere Sicherheit geht verloren und man sucht einen Ausgleich, indem man nach Ruhm und Ansehen im Äusseren strebt. Diese Feststellung Fromms ist nicht nur ein Exposé für Träume, sondern essentiell auch für Märchen! 

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Freud und Jung

Von dem Fischer un syner FruSigmund Freud betrachtet ja die Träume sehr stark als Ausdruck unerfüllter Wünsche aus einer mehr oder weniger unbewussten Mangelsituation heraus.

Und das Märchen? Das Märchen kennt immer Mangelsituationen, und oft ist es ein Wunsch, der weiterhilft. Die Wünsche werden im Märchen meistens früher oder später erfüllt, auch die törichten Wünsche! Die Wünsche beinhalten also bereits die Umsetzung, sie sind so gut wie Wirklichkeit. Das Märchen wird sozusagen zum Paradigma des Mentaltrainings. Das führt uns zur Auffassung C.G. Jungs (siehe oben).

Freud nimmt an, dass der Traum unbewusste Strebungen zum Ausdruck bringt, deren Gewahrwerden wir uns nicht gestatten und die wir daher aus unserem Bewusstsein fernhalten, solange wir unsere Gedanken voll unter Kontrolle haben. Diese verdrängten Gedanken und Gefühle werden im Schlaf lebendig und finden eine Ausdrucksmöglichkeit in den Träumen. Die unser Traumleben motivierenden Kräfte sind unsere irrationalen Wünsche. Freud nimmt an, dass diese Wünsche im „normalen“ Leben unterdrückt werden. Sie tauchen in der Nacht auf, wenn die Kontrolle fehlt. Freud sucht die Wurzeln die der irrationalen Wünsche (und daher auch des Traumes ) in der Kindheit eines Menschen, in der noch „alles erlaubt“ war, also keine Moral Zensur übte. Dementsprechend erschien Freud das Ausleben dieser Träume als unvereinbar mit der erwachsenen Persönlichkeit eines Menschen.

Freud sieht als Konsequenz in den Märchen eine Regression auf frühere Stufen der Menschheitsentwicklung. Die Befriedigung libidinöser Wünsche wird in Geschichten im Reich der Phantasie gesucht.

C.G. Jungs Auffassung zu Märchen und Traum habe ich oben dargestellt.

Erich Fromm versucht eine Synthese von Freud und Jung, indem er die aktuelle Lebenssituation des Träumers miteinbezieht. Die Träume erhalten bei Fromm eine revolutionäre Komponente für die Persönlichkeitsentwicklung, indem sie einerseits die innere Zensur für die unbewussten Vorgänge des Individuums und anderseits die Verblendung durch die Gesellschaftsstrukturen überwinden.

Fromm vertritt die „Ansicht, dass Träume sowohl an unserer irrationalen als auch an unserer rationalen Natur teilhaben und dass es das Ziel der Kunst der Traumdeutung ist, zu erkennen, wann unser besseres Selbst und wann unserer tierische Natur sich im Traum vernehmen lässt.“ Man sollte zu erkennen versuchen, „ob ein Traum einen irrationalen Wunsch, eine schlichte Furcht oder Angst oder eine Einsicht in innere oder äussere Kräfte und Ereignisse zum Ausdruck bringt.“ Es ist auch zu fragen, „in welcher Beziehung der Traum zu jüngsten Ereignissen … und zu dessen Gesamtpersönlichkeit, zu seinen Ängsten und Wünschen steht, die in seinem Charakter wurzeln.“     

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Interpretation von Träumen und Märchen

Wenn ich mit der Intuition eine Märchendeutung versuche, erfasse ich folglich das Märchen am umfassendsten, nicht nur als schöne, mit Symbolen gespickte Geschichte, sondern als Botschaft, aufgespalten in viele Facetten.

Ergänzend dazu kann ich ein Märchen auf der Ebene der Strukturen und Motive (wie z.B. Aarne und Thompson) betrachten, sie im Kontext der Werte und Kulturen sehen und die Symbole gefühlsmässig wahrnehmen.

Wissenschaftlich an ein Märchen heranzugehen heisst, vorurteilslos daran zu gehen. Feste Vorstellungen, was Symbole bedeuten, sind Vorurteile.

Marie-Loise von Franz (Wheelwright Gallery)Auch der Traum bringt immer eine neue Botschaft und spiegelt nicht die bekannten Themen. Am Märchen kann man Vorurteilslosigkeit üben, weil dort nicht konkrete Themen eines Individuums, für welche möglicherweise eine persönliche Angstblockade besteht, sondern allgemein Menschliches behandelt wird.

Bei der Deutung von Träumen und Märchen warnt Marie-Louise von Franz in ihrem Buch „Psychologische Märcheninterpretation“ davor, sofort intellektuell-analytisch vorzugehen: Wenn in einem Traum ein Adler zum Fenster herein fliegt, denkt man nicht zuerst an seine mythologische Bedeutung (z.B. als Bote Gottes), was wissenschaftlich völlig richtig wäre, sondern es ist primär ein Erlebnis mit Emotionen. Und warum war es ein Adler und nicht ein Engel? Mythologisch macht das keinen grossen Unterschied, aber für den Träumer schon, weil ganz andere Emotionen und Assoziationen damit verbunden werden. Deshalb greift eine intellektuell-wissenschaftliche Betrachtungsweise in der Traumdeutung immer viel zu kurz. Der wichtigste Faktor ist der Boden, auf welchem so ein Traum wächst, die menschliche Grundlage, aus der solche Motive entstehen.

Aus Analogie zur Traumdeutung heisst das für mich, meinen „Boden“, auf welchem ich an ein Märchen herangehe, als Ausgangspunkt zu nehmen.

Traumforscher weisen darauf hin, dass es in einem Traum manchmal zu einer Aufspaltung einer Person in zwei Personen kommt, der Träumer sich in zwei verschiedenen Rollen sieht. Analogie im Märchen: Wenn wir mit der sogenannten subjektstufigen Betrachtungsweise an ein Märchen herangehen, verstehen wir die verschiedenen Personen (einschliesslich der Tiere und übernatürlichen Wesen) als verschiedene Aspekte der Hauptperson, mit denen diese sich in ihrem Leben auseinandersetzen muss.  

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Symbolsprache der Träume und Märchen

Erich Fromm, der ursprünglich Sigmund Freuds Auffassung näher steht und später eine Synthese der Auffassungen von Freud und Jung versucht, sagt: “Wenn die symbolische Sprache (der Märchen und Träume) eine eigenständige Sprache, die tatsächlich einzige universelle „Weltsprache“ ist, die alle Menschen, Kulturen und Religionen verbindet, geht es darum, sie zu verstehen, nicht zu deuten, wie wenn es ein künstlich hergestellter Geheimcode wäre. … Ich halte die Symbolsprache für die einzige Fremdsprache, die jeder von uns lernen sollte.”

Die Symbolsprache der Träume fasst Freud als Geheimcode auf, mit dem der Zensor inn unserer Persönlichkeit überlistet werden sollte. Entsprechend dem hohen Stellenwert der inzestuösen Sexualität bei Freud, sind für ihn die Traumsymbole Symbole für Sexualorgane und Vater und Mutter.

Des Kaisers neue Kleider (1849, Vilhelm Pedersen)Das Märchen „des Kaisers neue Kleider“, ein Kunstmärchen von H.C. Andersen interpretiert Freud entsprechend als Darstellung unserer exhibitionistischen Wünsche. Freud verkennt die offensichtliche Botschaft, dass unsere Neigung, Autoritätspersonen und andere Idole mit wunderbaren Eigenschaften auszustatten oder uns von ihnen blenden zu lassen, erst durch ein unbefangenes, ehrliches Sehen entlarvt wird, die reine Sicht eines Kindes.

Jung lehnt natürlich Freuds Vorstellung ab, dass Träume ein „Täuschungsmanöver“ unseres Ichs und die Symbole ein „Überlistungscode“ seien.

Für Fromm ist die Symbolsprache eine Sprache, in der die Aussenwelt ein Symbol der Innenwelt, ein Symbol unserer Seele, unseres Geistes ist. Er unterscheidet       

  • Konventionelle Symbole, bei welche in Zusammenhang zwischen dem Symbol und dem Gegenstand nicht ersichtlich ist, z.B. das Lautbild oder Schriftbild. Wir lernen den Zusammenhang durch Bilden einer Assoziation. Vielleicht sind solche konventionellen Symbole ursprünglich direkter mit dem Gegenstand verknüpft gewesen, wie das heute bei onomatopoetischen Wörtern noch der Fall sein kann. Beispiel: Das Aussprechen des Wortes „Pfui“ ist mit einer physischen Geste des Abscheus verbunden. Wohl kein Zufall, dass es hier um den Ausdruck eines Gefühls geht, nicht um die Beschreibung eines Gegenstandes. Neben den Wörtern gibt es andere konventionellen Symbole: die Fahne eines Landes, obwohl viele Fahnen ursprünglich eine konkrete, in der Regel mythische Bedeutung für das Land hatten, die heute nicht mehr direkt nachvollziehbar sondern einfach eine Assoziation ist.
  • Zufällige Symbole entstehen durch die Verbindung von emotionalen Erlebnissen mit Gegenständlichem. Wenn ich auf der Nordfriesischen Insel Föhr einmal eine ruhevolle, von schönen Stimmungen geprägte Zeit erlebt habe, wird Föhr für mich ein Symbol für diese Gefühle bleiben. Das nutzt z.B. die Werbung aus. Wenn mich in der Stadt XY meine Geliebte verlassen hat, wird die Stadt XY ein Symbol für enttäuschte Liebe bleiben und jedesmal ein „Blues“-Gefühl hervorrufen, da meine damaligen Gefühle mit dieser Stadt verbunden bleiben werden. Es entsteht also eine Assoziation zwischen einem Gefühl und etwas Gegenständlichem. Zufällige Symbole bleiben persönlich, jemand anders kann in derselben Stadt XY völlig andere Gefühle erlebt, vielleicht die Frau seines Leben gefunden haben.     
  • Universelle Symbole werden von vielen Menschen geteilt. Es besteht eine innere Beziehung zwischen dem Symbol und dem, was es repräsentiert. Es ist in der Erfahrung vieler Menschen verwurzelt, auch wenn es kulturell sehr verschieden ausgeprägt sein kann. Gewisse Symbole sind wirklich universell, so dass sie von allen Menschen geteilt werden, wie zum Beispiel „Das Feuer“, das überall mit Begriffen wie Kraft, Energie, Transformation usw. verbunden wird, wobei wir je nach persönlicher Gefühlslage und kultureller Herkunft Unterschiedliches assoziieren.

Erscheinungen der physischen Welt sind Symbole für Zustände und Ereignisse in unserem Inneren. Unsere Seele drückt sich ja auch sonst im Physischen aus, z.B. indem Emotionen in Körperreaktionen umgesetzt werden (Bsp.: Erröten, Schaudern, Gesichtsausdrücke, Gesten). So wird unser Körper selber zu einem Symbol. Solche Symbole müssen wir nicht „lernen“.

Hethitisches SonnensymbolBei gewissen universellen Symbole ist die kulturelle Einbettung sehr ausgeprägt. Zum Beispiel: „Die Sonne“ hat für eine Kultur, in welcher „zuviel“ Sonne Dürre und Missernte zur Folge haben und damit das Überleben gefährden (das Wasser gilt hier wohl eher als lebensspendend) kann eine ganz andere Dynamik als für eine nordische Kultur, wo Wasser genügend vorhanden ist, und dafür das Überleben von genügend Sonneneinstrahlung abhängig ist, und die Wintersonnenwende ein wichtiges Ereignis darstellt. (Bild links: Hethitisches Sonnensymbol)

Adolf Bastian postulierte in der Mitte des 19. Jhdts. die „Elementargedanken“, die jedem Menschen angeboren sind und sich dann ganz unterschiedlich in den Volksgedanken manifestieren. Diese Elementargedanken sind eine Anfangsstufe zum Archetypen-Konzept C.G. Jungs. Bastian beschränkte seine Vorstellung noch auf Gedanken im intellektuellen Sinne, ohne die Dimensionen des Fühlens, Erfahrens usw. dazuzunehmen. Diese von Volk zu Volk unterschiedlich dargestellten Elementargedanken finden wir natürlich auch in den Märchen wieder. Sagen und Mythen sind stärker kulturabhängig als Märchen. Daher spiegeln sie die Grundmuster der menschlichen Seele weniger klar.

Die Archetypen sind seelische Strukturen im Unbewussten, die sich uns in Bildern und Verhaltenmustern auf archaische Weise zeigen. Entsprechend ihres Ursprungs in der menschlichen Entwicklung als Urerfahrungen deuten sie auf grundlegend Menschliches wie Kampf zwischen Gut und Böse, Liebe usw. Im Unbewussten sind alle Archetypen miteinander verbunden und überlappen sich. Das hat nach Marie-Louise von Franz mit der Zeit- und Raumlosigkeit der Archetypen zu tun.

Als Märchenerzähler sehe ich auch die Märchen mit ihren typischen Anfängen in dieser Zeit- und Raumlosigkeit „angesiedelt“.

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[Fortsetzung/Abschluss folgen] 

 

 

 

 

Träume in den Märchen

[Beitrag in Entwicklung]

„Den Seinen gibt’s der Herr im Schlaf.“

Träume in den Märchen (und nicht nur in den Märchen) öffnen ein Fenster zum kollektiven Wissen, übermitteln Botschaften aus der geistigen Welt. Sie helfen den Märchenheldinnen und -helden bei Entscheidungen, geben Hinweise auf Problemlösungen, warnen vor Gefahren oder zeichnen den zukünftigen Weg auf.

Die Träume in den Märchen haben also eine ähnliche Bedeutung wie die verschiedenen „Alten“ (alte Männer, alte Mütterchen) oder die Naturwesen, denen die Märchenheldinnen und Märchenhelden begegnen.

Die Träume in den Märchen sind nicht Vergangenheitsbewältigung oder Kompensation von Mangelerfahrungen (entsprechend des Defizit-orientierten Ansatzes von S. Freud) sondern in die Zukunft gerichtet (also eher dem Ansatz C.G. Jungs entsprechend). Dies geht natürlich mit einem allgemeinen Charakteristikum der Märchen einher, nicht mit der Vergangenheit zu hadern, an den Problemen und Defiziten hängen zu bleiben, sondern vertrauensvoll und Ressourcen-orientiert auf dem Lebensweg voran zu gehen. Weiterlesen

Als ich mich selbst zu lieben begann (Chaplin)

Aus einer Rede von Charlie Chaplin (Sir Charles Chaplin, 1889 – 1977)
am 16. April 1959 zu seinem 70. Geburtstag.

Als ich mich selbst zu lieben begann,
habe ich verstanden, dass ich immer und bei jeder Gelegenheit zur richtigen Zeit am richtigen Ort bin und dass alles, was geschieht, richtig ist – von da an konnte ich ruhig sein. Heute weiss ich: Das nennt man VERTRAUEN.

Als ich mich selbst zu lieben begann,
konnte ich erkennen, dass emotionaler Schmerz und Leid nur Warnungen für mich sind, gegen meine eigene Wahrheit zu leben. Heute weiss ich: Das nennt man AUTHENTISCH SEIN.

Als ich mich selbst zu lieben begann,
habe ich aufgehört, mich nach einem anderen Leben zu sehnen, und konnte sehen, dass alles um mich herum eine Aufforderung zum Wachsen war. Heute weiss ich, das nennt man REIFE.

Als ich mich selbst zu lieben begann,
habe ich aufgehört, mich meiner freien Zeit zu berauben,und ich habe aufgehört, weiter grandiose Projekte für die Zukunft zu entwerfen. Heute mache ich nur das, was mir Spass und Freude macht, was ich liebe und was mein Herz zum Lachen bringt, auf meine eigene Art und Weise und in meinem Tempo. Heute weiss ich, das nennt man EHRLICHKEIT.

Als ich mich selbst zu lieben begann,
habe ich mich von allem befreit, was nicht gesund für mich war, von Speisen, Menschen, Dingen, Situationen und von Allem, das mich immer wieder hinunterzog, weg von mir selbst. Anfangs nannte ich das »Gesunden Egoismus«, aber heute weiss ich, das ist SELBSTLIEBE.

Als ich mich selbst zu lieben begann,
habe ich aufgehört, immer recht haben zu wollen, so habe ich mich weniger geirrt.
Heute habe ich erkannt: das nennt man DEMUT.

Als ich mich selbst zu lieben begann,
habe ich mich geweigert, weiter in der Vergangenheit zu leben und mich um meine Zukunft zu sorgen. Jetzt lebe ich nur noch in diesem Augenblick, wo ALLES stattfindet, so lebe ich heute jeden Tag und nenne es BEWUSSTHEIT.

Als ich mich zu lieben begann, da erkannte ich, dass mich mein Denken armselig und krank machen kann. Als ich jedoch meine Herzenskräfte anforderte, bekam der Verstand einen wichtigen Partner. Diese Verbindung nenne ich heute HERZENSWEISHEIT.

Wir brauchen uns nicht weiter vor Auseinandersetzungen, Konflikten und Problemen mit uns selbst und anderen zu fürchten; denn sogar Sterne knallen manchmal aufeinander, und es entstehen neue Welten. Heute weiss ich: DAS IST DAS LEBEN !

Danke, Edith und Mario, für diesen Neujahrstext.




The Cherry Tree Carol

Pentangle "Solomon's Seal" CoverEs war wieder einmal Zeit, dies wundersame alte englische Weihnachtslied zu singen, eingebettet in einer deutschsprachigen (Dialekt) Erzählung der Legende auf der Basis des englischen Liedtextes.

Gefunden hatte ich das Lied vor langer Zeit auf der Platte “Solomon’s Seal” der englischen Gruppe “Pentangle“.  Die Leadsängerin Jacqui McShee führt die Band bis heute weiter, nachdem die beiden legendären Gitarristen Bert Jansch und John Renbourn eigene Wege gegangen waren. Stilistisch den Trends der heutigen Zeit angepasst, eher noch eklektischer als früher, folgt Jacqui McShee immer noch dem Pfad des experimentellen Folk mit starken Einflüssen von Jazz und Worldmusik. Weiterlesen

Internationaler Kurs für Friedensanimatoren in Israel

Auch in Israel gibt es eine Minderheit von Menschen, die die Hoffung auf ein friedliches Zusammenleben nicht aufgegeben haben. Auf die Dorfgemeinschaft „Neve Shalom – Wahat al-Salam“ im Grenzgebiet zwischen Israel und dem besetzten palästinensischen Westjordanland habe ich schon hingewiesen >>.

Die Einwohnerinnen und Einwohner des Dorfes üben nicht nur das Zusammenleben von jüdischen und arabischen Menschen, sondern unterhalten auch eine Friedensschule, welche Kurse und Camps anbietet (und erfolgreich duchführt). In der Regel sind die Angebote für Menschen aus Israel / Palästina gedacht. Die Friedenschule kann auf über 30 Jahre professionelle Arbeit zurückblicken.

Auf grossen Wunsch ihrer Freunde im Ausland bietet sie 2010 zum ersten Mal ein internationalen Kurs für Friedensanimatoren an: 6.-18. Juli 2010, natürlich in Neve Shalom – Wahat al-Salam. Anmeldefrist noch bis Ende Januar 2010.

Grosse Mariazeller Messe (J. Haydn)

Mariazell
Mariazell (Steiermark)

Aufführung des Konzertchors Oberbaselbiet mit dem Barockorchester „La Sarabanda“ am 14. November 2009 in der Stadtkirche Liestal.

So habe ich das bei Joseph Haydn (1732-1809) noch nie wahrgenommen: Haydn, der Inbegriff der Klassik in der mitteleuropäischen Musik, greift in seiner „Grossen Mariazeller Messe“ (Missa Cellensis Hob. XXII, auch Cäcilienmesse genannt) intensiv auf die Tradition Johann Sebastian Bachs zurück. Vor allem in den Chorfugen, und davon hat es in dieser Messe einige, ist die Nachfolge des Fugenmeisters spürbar: Komplexe Themen erklingen, zum Teil sogar als Doppelfugen, die Stimmen setzen zu Beginn der Fuge stark versetzt ein, so dass die Themen vollständig ins Ohr gehen, eine lange und variationenreiche Durchführung folgt.

Da ist die Kunst des Chores und die Aufführungspraxis der Dirigentin Franziska Baumgartner-Meier besonders zu loben. Die einzelnen Stimmen hoben sich jeweils wunderbar transparent aus dem Ganzen heraus, wenn sie die Themen oder Teile davon präsentierten, ohne dass dabei die Homogenität des Gesamten verloren ging.

Das Werk Haydns enthält zahlreiche schöne Teile – und trotzdem fehlt ihm das gewisse Etwas. Für das musikalische Empfinden fehlen die Höhepunkte, die glanzvollen Stellen, die spätere Werke Haydns so beliebt machten. Es klingt, wie wenn der Meister seinen Stil noch nicht gefunden hätte. Vielleicht erreicht deshalb dieses Werk heute nicht die Bekanntheit anderer Haydn-Messen. Diese Messe darf noch fast als Jugendwerk gelten, auch wenn Haydn damals bereits 34 Jahre alt war.

Zwischen Gloria und Credo der Messe hatte die Dirigentin noch ein „Ave Maria“ für Solistenquartett und Streichorchester von Michael Haydn (1737-1806) eingeschoben.

Chor, Solisten und Orchester waren „super“. Der Konzertchor Oberbaselbiet präsentierte sich wieder einmal als Spitzenchor unter den Laienchören, was sich nicht zuletzt in der Aufmerksamkeit und stimmlichen Präsenz äusserte. Die Schwierigkeit des Werkes drückte sich in der Anspannung der Gesichter aber nicht in der Qualität des Chorgesangs aus. Franziska Baumgartner-Meier hatte die komplexe Musik jederzeit „an der Stabspitze“. Das Solistenquartett ist ebenfalls zu rühmen, besonders auch die tieferen Lagen, Altistin und Bassist. Letzterer hatte die dankbare, für einen Bassisten seltene Aufgabe mit einem ausgedehnten Solopart im Agnus Dei das Werk abzuschliessen (Das „Dona nobis pacem“ des Chores folgte natürlich schon noch). „La Sarabanda“, ein Orchester aus der Regio Basiliensis (auch unter dem Namen “La Beata Olanda” bekannt) zeigte, welche Stütze ein professionelles Orchester in einem Vokalkonzert darstellen kann. Der „barocke Touch“ des Werks kam dem auf alte Musik spezialisierten Ensemble wohl sehr entgegen. Ein schönes Konzert!

Der Mensch stammt vom Affen ab

Darwin und AffeEin heiliger Affe zog einst in die Berge des Himalayas, um zu meditieren.

Er war ein Mönch und eine Inkarnation der Barmherzigkeit. Er war so schön und anmutig, dass sich eine Felsengöttin, die Landschaftsgöttin dieser Berge, in ihn verliebte und ihn heftig begehrte.

Sie versuchte ihn mit allen ihren Künsten zu verführen. Aber der Affe hielt sich an sein Mönchs-Gelübde und blieb standhaft.

Als die Felsengöttin unermüdlich blieb, um ihn zu werben, bekam er ein tiefes Mitleid mit ihr. Er dachte auch, dass eine enttäuschte Landschaftsgöttin eine grosse Gefahr für die Welt werden und viel Unheil anrichten könnte.

So erhörte er sie, und gemeinsam zeugten sie sechs Kinder, von denen die Menschen abstammen.

Legende aus dem Tibet.

Erzählt an der Schweizerischen Erzählnacht 2009.

Erzählnacht 2009 (13. November)

Als die Erde noch jung war.

Therese Bürgin, Regula Itin und Urs Volkart in der Gemeinde- und Schulbibliothek Gelterkinden.

Ein kleiner Kreis von Zuhörenden (um die 30 Personen) war zu diesem Erzählabend mit einem etwas speziellen Thema gekommen. Auffallend, dass die Einheimischen aus Gelterkinden weitgehend fehlten, dafür aber Zuhörende von weiter unten im Baselbiet angereist waren.

Kritik/Bericht (Seite 2 unten) und Portrait (Seite 1 oben) in der Regionalzeitung Volksstimme.

Programm mit den folgenden Mythen, Legenden, Sagen und „speziellen“ Märchen (die klassischen Märchen fehlten dem Thema entsprechend): Weiterlesen

Schöpfungsmythos der Kurden


Kurdische Landschaft

Einst lebten Licht und Dunkel ohne Übergang nebeneinander und wussten nichts voneinander, obwohl es ja das Dunkel nur dank des Lichts gibt.

Die Seelenwesen litten unter dieser trostlosen Doppelwelt. Besonders unzufrieden waren die, die im Dunkel leben mussten. Und das Klagen der Seelenwesen drang zu den Ohren des ewigen heiligen Vaters.

Da schuf der ewige heilige Vater das Reich der Dämmerung und nannte es «die Erde». Das bisher formlose nahm Form an. Der Sand begann zu singen. Der Geruch der brachen Erde lockte Leben, heisses dampfendes Leben an. Die Erde überzog sich mit grünem, blühendem Jubel. Leben kroch aus dem Kleinen und wuchs zum Gewaltigen heran. Leben erhob sich in die Lüfte auf grossen Flügeln und schwebte singend in den Tälern. Und auch des Meeres salzige Fluten liessen neues Leben entstehen. Und alles war bereit für den Menschen.

So schlug der ewige heilige Vater die Brücke zwischen dem Reich des Lichts und dem Reich des Dunkels. Jedes Reich gab einen Teil dafür, damit das Reich der Dämmerung, die Erde, lebe.

Noch wussten die Seelenwesen dieses Geschenk nicht zu nutzen. Da rief der ewige heilige Vater alle zusammen, die zufriedenen wie die unzufriedenen. Als sie versammelt waren, wies der ewige heilige Vater mit seinem rechten Arm zur Erde und sprach: „Dort steht der Mensch, zu meiner Linken, den Äckern der Erde am nächsten.“

Und weiter sprach er: „Ihr Seelenwesen, die ihr bisher im Reich des Dunkels leben musstet und unzufrieden wart, seid voller Hoffnung. Im Menschen schuf ich euch die Möglichkeit, euch zu verwirklichen und ins Licht zu gelangen.

Ratlos hörten die Seelenwesen die Worte des ewigen heiligen Vaters.


Kurdische Fahnefür die Schweizerische Erzählnacht 2009 (Motto “Als die Erde noch jung war, …”) sehr frei nacherzählt nach:
Abbas, Hilmi, „Das ungeschriebene Buch der Kurden“, Diederichs, Seite 33.

Die Geburt Christi (Heinrich von Herzogenberg)

Der Komponist

Der österreichische Komponist Heinrich von Herzogenberg (1843-1900) (Portrait) ist vielen Musikbegeisterten weitgehend unbekannt. An der Qualität seiner Werke kann es kaum liegen, vielleicht eher an seiner zurückgezogenen Art. Mit einigen Freunden, unter anderen mit Johannes Brahms, pflegte er intensiven Kontakt, aber die wirksamen Publikumsauftritte, die andere Komponisten der Romantik durchaus suchten, schienen ihm fremd zu sein.

Heiden um 1900, Blick auf BodenseeHerzogenberg kann durchaus als „Zeitschweizer“ betrachtet werden. Er besass ein Haus in Heiden im Appenzellerland (Bild links: Heiden um 1900), wo er häufig weilte und unter anderem auch das Weihnachtsoratorium „Die Geburt Christi“ komponierte.

Herzogenberg stand stark in der Tradition der von Felix Mendelssohn begründeten Wiederentdeckung der Werke Johann Sebastian Bachs und des Aufschwungs der grossen Laienchöre, wie wir sie heute noch kennen. Unter anderem sorgte er für die Aufführung des Kantatenwerks Bachs in Leipzig.

Als Komponist von Vokalwerken liess er sich stilistisch stark von Bach und Schütz beeinflussen, dessen Werke er intensiv studierte und oft aufführte. Gleichzeitig übernahm er die (zumindest dazumal) kühne Harmonik der Spätromantik. Und genau an dieser Kreuzung steht unter anderem sein Weihnachtsoratorium „Die Geburt Christi“.

Geschichte des Werks

Seit der Barockzeit hatte sich kein Komponist mehr an ein Weihnachtsoratorium herangetraut, sei es aus Ehrfurcht vor der Grösse des Weihnachtsoratoriums von Johann Sebastian Bach, sei es weil Georg Friedrich Händels „Messias“ durchaus populär war.

Ein naher Freund Herzogenberg, Friedrich Spitta, Sänger und Theologe, erkannte aber die Problematik der beiden Werke. Die Anforderungen an die Musizierenden, den Chor, die Solisten und das Orchester waren gross. Und schon damals war es vom Aufwand her für einen „gewöhnlichen“ Chor unmöglich, für eine Aufführung ein entsprechendes Orchester und hochkarätige Solisten zu engagieren. Dazu kam, dass auch damals die Texte vor allem der Arien in Bachs Weihnachtsoratorium als ungeniessbar empfunden wurden. Spitta schrieb: „Um der unvergleichlichen Musik [Bachs] willen lassen wir uns schliesslich alle Texte gefallen.“

Spitta „bearbeitete“ deshalb im Sommer bei einem Besuch in Heiden seinen Freund Heinrich von Herzogenberg, ein nicht aufwändiges Oratorium mit volksnahen Texten zu schreiben, ohne Orchester, nur mit Orgel und Harmonium, die ja in jeder Kirche vorhanden waren, und Solistenpartien, welche nicht unbezahlbare Koryphäen sondern vielleicht sogar herausragende Chormitglieder übernehmen könnten.

Spitta steuerte selber die Texte bei. Die Weihnachtsthematik teilte er dreifach auf: den Adventsteil „Die Verheissung“, die Geburtsszene „Die Erfüllung“ und als Schlussteil „Die Anbetung“ mit dem abschliessenden Text aus dem Johannes-Evangelium „Also hat Gott die Welt geliebt, …“

Vom Beginn der Kompositionsarbeit im August 1894 bis zur Uraufführung im Dezember vergingen keine 4 Monate. Herzogenberg stürzte sich mit aller Kraft in die Arbeit und wurde „für die Umwelt ungeniessbar“, wie Spitta später schrieb. Die beiden hatten allerdings auch noch einige Differenzen auszutragen. Herzogenberg wollte unbedingt noch ein Streichquartett, nicht zuletzt als Stütze für den Chor und parierte Spittas Einwände mit dem Satz „Ein paar Bierfiedeler wird man doch gewiss überall auftreiben können!“ Kurze Zeit später überfiel er erneut Spitta, diesmal mit dem Wunsch nach einer Oboe. Der entrüstete Spitta befürchtete schon, das zuletzt ein romantisches Riesenorchester, vielleicht dachte er an Hector Berlioz, dastehen würde. Aber Herzogenberg beruhigte ihn, dass dies sein letzter Wunsch wäre, und hielt sich auch daran.

Ende September erhielt Spitta ein Telegramm von Herzogenberg: „Fertig! Komme morgen, sorge für einen kleinen Chor.“ In den folgenden Wochen setzte eine intensive Probenarbeit ein, bis dann am 16. Dezember 1894 in der Thomas-Kirche Strassburg die Uraufführung erfolgte, für welche Herzogenberg zuvor geschrieben hatte „Auf Sonntag lade ich den lieben Gott ein.“

Und im Rückblick schrieb er: „Der Kaiser von Russland ist nicht glücklicher als ein kleiner grüner Käfer, der nur vier Blätter und sechs Halme kennt und die ganze Welt zu haben meint. Und wenn ich des Augenblicks gedenke, als meine Musik durch die ganze Thomaskirche flutete vom Altar zur Orgel und wieder zurück, geschwellt von dem unvergesslichen Unisono der Gemeinde, dann erlebte ich eine Stunde, deren sich kein noch so beliebter Konzertkomponist unserer Tage zu rühmen hätte.“

Die Musik

Die Musik dieses Weihnachtsoratoriums ist sehr abwechslungsreich und eine echte Herausforderung für jeden „Provinzchor“, für welche Herzogenberg ja schreiben sollte. Nicht nur in den Gemeindeliedern kommen die bekannten Weihnachtslieder zur Geltung. Auch in vielen Chorsätzen stehen als Cantus firmus oder in einzelne Stimmen eingebaut oft Melodien alter Weihnachtslieder wie „Es ist ein Ros’ entsprungen“, „O Heiland, reiss die Himmel auf“ oder „Kommet, ihr Hirten“. Die Zuhörenden werden sich, dazu noch mit einbezogen als singende Gemeinde, in diesem Werk deshalb „daheim“ fühlen, auch wenn es ihnen völlig unbekannt ist.

Herzogenberg lässt seine stilistische Wahl des Klangs vom zu vertondenden Text leiten: Dort, wo am Anfang von der “alten Geschichte” die Rede ist, lehnt er sich an den Stil von Heinrich Schütz an. Später, wenn er die Entscheidung der Hirten, jetzt das Jesuskind aufzusuchen vertont, lehnt er sich ganz offensichtlich an Bachs Weihnachtsoratorium an “Lasset und nun gehen ‘gen Bethlehem”, samt einer für Bachs Zeit typischen Fuge.

Im Schlusschor, lässt er die 2 Chöre in Fis-Dur enden und dann in E-Moll weiterfahren: “Also”, in dieser Akkorabfolge nur in der Spätromantik möglich. In den Harmonien der Chorsätze schenkt Herzogenberg den Sängerinnen und Sängern sowieso nichts, und ein Laie wie ich fragt sich manchmal, wozu Herzogenberg überhaupt mit den Vorzeichen eine bestimmte Tonart nahe legt, da er doch ständig durch alle möglichen Akkorde hindurch moduliert. Aber da gibt es vielleicht musikalische Absichten, wie auch bei Bach keine Tonart zufällig gewählt ist.

Speziell ist sicher, dass keine grossen Arien vorkommen, sieht man vom sowieso eher rezitativ wirkenden Evangelisten ab, sondern kurze solistische Partien für 2 bis 4 Stimmen. Da wird neben der Instrumentierung die Absicht Herzogenbergs für die Gemeinde zu schreiben besonders deutlich.

Solovioline und Oboe werden oft „obligat“ eingesetzt. Sonst aber sollen die Instrumente vor allem den Chor auf seinen abenteuerlichen Wegen durch die Harmonien stützen. Für den Chor kulminiert das Oratorium in einem doppelchörigen achtstimmigen Satz in Fis-Dur, der sogar für eine kurze Phase von einer weiteren Stimme (Kinderchor) überlagert wird: „Also hat Gott die Welt geliebt“. Die Gemeinde nimmt als Abschluss das Eingangslied wieder auf: „Vom Himmel hoch, da komm’ ich her“. Und die Orgel beendet das Werk als einen grossen Gottesdienst.

Konzert des Gemischten Chors Bennwil (“Bämbel Bees”)

Martin von Rütte, der musikalische Leiter des Gemischten Chors Bennwil, einer kleinen Baselbieter Gemeinde, versucht konkret die Absichten Herzogenbergs und Spittas umzusetzen: Ein Laienchor, der sich noch nie an ein grosses geistliches Werk gewagt hat, Solisten aus dem Kreis der Chorsängerinnen und -sänger (mit Ausnahme des Evangelisten, Simon Jäger, Tenor, der auch einzelne Bariton-Solo-Stellen singt), ein Streichquartett (keine Bierfiedler!), die Solo-Oboe, Orgel und Harmonium, und natürlich eine hoffentlich wacker mitsingende Zuhörer/innen-Gemeinde. Fertig.

Die Aufführungen des Weihnachtsoratorium sind auf den 2. Advent gesetzt, ummittelbar vor Sankt Nikolaus:

Freitag, 4. Dezember 2009, 20 Uhr, Dorfkirche Bennwil.
Samstag 5. Dezember 2009, 20 Uhr, Stadtkirche Liestal.

Quellenangaben: Schweizer Website für H. v. Herzogenberg:  http://www.herzogenberg.ch/ueber.htm
und Wikipedia: http://de.wikipedia.org/wiki/Herzogenberg
plus eigene Kommentare und solche von Martin von Rütte.