Kategorie-Archiv: Betrachtungen

Sechse kommen durch die ganze Welt

Betrachtung zu „Sechse kommen durch die ganze Welt“  KHM 71

Schon im Titel kommt die Bezeichnung Sechs vor, und nicht etwa “Der Soldat und seine 5 Diener” oder so ähnlich. Damit wird gesagt, dass die 6 wirklich ein Team (siehe unten) bilden und nur gemeinsam „durch die ganze Welt kommen“ können.
„Die ganze Welt“ symbolisiert dabei „das ganze Leben“.

Weiterlesen

Träume in den Märchen

[Beitrag in Entwicklung]

„Den Seinen gibt’s der Herr im Schlaf.“

Träume in den Märchen (und nicht nur in den Märchen) öffnen ein Fenster zum kollektiven Wissen, übermitteln Botschaften aus der geistigen Welt. Sie helfen den Märchenheldinnen und -helden bei Entscheidungen, geben Hinweise auf Problemlösungen, warnen vor Gefahren oder zeichnen den zukünftigen Weg auf.

Die Träume in den Märchen haben also eine ähnliche Bedeutung wie die verschiedenen „Alten“ (alte Männer, alte Mütterchen) oder die Naturwesen, denen die Märchenheldinnen und Märchenhelden begegnen.

Die Träume in den Märchen sind nicht Vergangenheitsbewältigung oder Kompensation von Mangelerfahrungen (entsprechend des Defizit-orientierten Ansatzes von S. Freud) sondern in die Zukunft gerichtet (also eher dem Ansatz C.G. Jungs entsprechend). Dies geht natürlich mit einem allgemeinen Charakteristikum der Märchen einher, nicht mit der Vergangenheit zu hadern, an den Problemen und Defiziten hängen zu bleiben, sondern vertrauensvoll und Ressourcen-orientiert auf dem Lebensweg voran zu gehen. Weiterlesen

Danaë – etymologisches und etwas mythologisches

Die Geschichte von Danaë und Perseus >>

Betrachtung zur Geschichte von Danaë >>

Danae auf einer böotischen Gefäss des 5. Jhdts. aCnDanaë soll etymologisch „ausgedörrt”, „am Verdursten” bedeuten, also vom griechischen Adjektiv δανóς  her kommen, so hergeleitet z.B. in Wikipedia .

Obwohl das angesichts der möglicherweise nach Liebe dürstenden Danaë, welche ja auch mit einem goldenen Regen beglückt wird, inhaltlich plausibel erscheint, sprechen m.E. sprachliche Gründe dagegen:

  1. Das erste „a” in δανάη ist kurz, während dasjenige in δανóς =„trocken, dürr” lang ist. Vokallängen in Wortstämmen sind sprachgeschichtlich aber eher konservative Elemente.
  2. Das Adjektiv δανóς ist endbetont, während δανάη auf der zweitletzten Silbe betont wird.
  3. Der Wortstamm „dăn” mit kurzem „a” bedeutet im indoeuropäischen „Wasser”.
  4. Der Wortstamm „dān” mit langem „a” bedeutet im semitischen „Richter” und findet sich auch in der Bibel. Eine Verbindung zur Danaë und dem Stamm der Danaër in der antiken Argolis ist nicht ersichtlich.
  5. Ein „αν” oder „α” als Präfix könnte im griechischen durchaus eine Negation („wasserlos”) sein.
    Dass dies auch für ein nachgestelltes „-α(ν)” gälte, ist mir als Laien noch nie begegnet.

Weiterlesen

Drachenkräfte — von den Drachen in uns und um uns herum

Die folgenden Gedanken erheben weder Anspruch auf vollständige Behandlung des Themas noch auf Wissenchaftlichkeit. Als Grundlagen dienten mir verschiedene Artikel in der Zeitschrift Märchenforum 1/09. Ausserdem erhielt ich Impulse bei der Lektüre eines Buches von Fritz Bachmann: „Getragen von Engeln und Elementarwesen“. Eigene Nachforschungen führten mich weniger zu den Brüdern Grimm als in die Bibel. Und die Quellen vieler Assoziationen kann ich nicht mehr rückverfolgen – da sammelt sich eben bei mir allerlei Wissen ohne Quellenerinnerung an.

Urs Volkart, im April 2009 Weiterlesen

Die Madonna und der Drache

Zusammenfassung von Motiven und einige Gedanken zu diesem Märchen, das sich unter anderem in folgendem Büchlein findet:
Studer-Frangi, Silvia (2008), Italienische Märchen, Königsfurt Verlag, ISBN: 3-86826001-3.

Der Handlungsablauf des Märchens geht, ganz unmärchenhaft zusammengefasst, so:

  1. Es gibt einen besonderen Ort, wo man um Mitternacht Glocken läuten hört.
  2. Dort tief unten befinden sich in einer Höhle, zugänglich durch einen Erdspalt, ein Drache und die heilige Madonna.
  3. Die Madonna hütet den Drachen und verhindert durch Läuten der Glocken, dass der Drache um Mitternacht an die Erdoberfläche steigt und Leute verschlingt.
  4. Eine Frau, die alles Vertrauen ins Leben verloren hat und “am Ende” ist, nicht mehr singen kann, nutzt ihre Chance und steigt in die Höhle hinunter.
  5. Sie hilft der erschöpften Maria beim Läuten der Glocken bzw. singt, um den Drachen im Zaum zu halten.
  6. Der Drache verwickelt seinen Schwanz in die Glockenseile und kann sich fortan selber mit Geläut beruhigen.
  7. Die Madonna geht mit der Frau mit und hilft ihr im Leben.
  8. Die Frau mag wieder singen.

Bemerkenswert ist, dass hier nicht der Drache die Jungfrau hütet, sondern die Jungfrau den Drachen (3, 5). Es handelt sich eben nicht um eine gewöhnliche Jungfrau, sondern um die Madonna, die spirituelle Tochter der Gaia. Oder wie ich es kürzlich gehört habe: die durch Christuskraft transformierte Gaia.

Die Frau findet in der Höhle (4) meiner Meinung nach also nicht nur ihre Urkraft, den Drachen, sondern zugleich ihren durch die Madonna symbolisierten göttlichen Kern. Kein Wunder, dass sie nach diesem Abenteuer, welches sie vor dem Selbstmord oder der Depression gerettet hat, wieder singen mag (8). Sie hat den Zugang zu ihrem wahren Selbst und zu ihrer Stärke gefunden, was ihr im Leben hilft (7).

Höhlen sind der Schoss von Mutter Erde. Dorthin ziehen sich Drachen zurück, die an der Erdoberfläche verdrängt werden (2). Wir Menschen oben nehmen sie als Bedrohung war und fühlen uns als Opfer. Sicherheitshalber muss der Drache deshalb in der Höhle bleiben (6).

Zahlen im Märchen

Die sieben RabenDie Verwendung der Jahrtausende alten Zahlensymbolik unterstreicht, dass die Märchen 

  1. eine uralte Tradition haben,
  2. etwas allgemein Gültiges aussagen und
  3. wie die Mythen die göttliche Ordnung der Welt darstellen wollen.

Zur Zahlensymbolik und Zahlenmystik (Numerologie) gibt es sehr viel Literatur jeglichen Niveaus. Da die Bedeutung der Zahlen nicht in allen Kulturen genau dieselbe ist, müssen wir in den Märchen (wie bei allen Deutungsversuchen) den kulturhistorischen Kontext beachten. Unsere europäischen Märchen sind natürlich stark geprägt von der jüdisch-christlichen Zahlenmystik, von welcher es ja auch in der Bibel wimmelt.

Beispiele mit möglichen Anwendungen im Märchen:

 1

Einheit, Einzigartigkeit, in der Regel als Ziel des Märchens (Heirat), aber auch als Anfang (Göttlicher Ursprung).

 2

Teilung (unten-oben, Tag-Nacht. Yin-Yang usw.).

 3

Vater-Mutter-Kind, Trinität, eine vollkommene Einheit (oft am Anfang und am Ende eines Märchens); starke Bestätigung.
In den Märchen sehr verbreitet für Wiederholungen (Handlungserfolg erst im 3. Anlauf).

 4

etwas Umfassendes, alles abdeckendes (Die 4 kunstreichen Brüder),
das Irdische (im Gegensatz zur himmlischen Zahl 3).

 5

Pentagramm vor allem in der jüdisch-orientalischen Zahlenmystik als Symbol für den Menschen, selten im Märchen.

 6

noch nicht vollkommen (→ 7), erst die Hälfte von 12;
nicht so oft im Märchen verwendet (Sechse kommen durch die ganze Welt);
Mathematik: 6 ist eine perfekte Zahl 1+2+3=6 und 1x2x3=6.

 7

Vollendung eines wiederholbaren Zyklus’. Vollkommenheit. 3+4=7.
Als Zahl verbreitet in den Märchen (7 Geisslein, Zwerge, Raben, Schwaben; Sieben auf einen Streich usw.)

 12

Heilige Ordnung. Im Altertum war ja das Duodezimalsystem weit verbreitet.

 13

Störung der heiligen Ordnung (Die 13. Fee im Dornröschen).

 40

beliebt für Zeitangaben (40 Jahre entsprechen 1 Generation). Dauer von Prüfungen.

Beliebt sind auch Vielfache dieser Zahlen.

Sehr typisch sind in den Märchen die Wiederholungen, von Ereignissen, Versen usw. Meistens braucht es drei Anläufe bis die Geschichte weitergehen kann.

Die Gänsehirtin am Brunnen

Die Gänsehirtin am Brunnen (Gemälde von Georg Mayer-Franken, Pfalzmuseum Forchheim)In der Sammlung der Kinder- und Hausmärchen der Brüder Grimm findet sich eine immer wieder verblüffend breite Palette von Geschichten. Wilhelm Grimm, dessen Tod sich 2009 zum 150. mal jährt, hat die meisten Märchen intensiv sprachlich und oft auch inhaltlich überarbeitet, aber offenbar auch bewusst gewisse stilistische Eigenheiten der Vorlagen bewahrt.

Im Märchen KHM 179 “Die Gänsehirtin am Brunnen (» Text)” wechselt mehrmals die Erzählperspektive, fast wie in einem Film: Wir folgen zuerst den Erlebnissen des Grafen mit der alten Frau; dann erfahren wir aus dem Munde der Königin in der Rückschau (auch das stilistisch selten in einem Volksmärchen) die Geschichte ihrer jüngsten Tochter; jetzt “schwenkt die Kamera life” zu eben dieser Tochter bei der alten Frau; am Ende begleiten wir erneut den Grafen bis zur glücklichen Vereinigung und Erlösung. Und auch der Märchenerzähler mischt sich noch in der “ich”-Form ein, wie das sonst eher in mediterranen oder orientalischen Märchen verbreitet ist.

Zur Märchenbetrachtung »».

Weiterlesen

Bibeltexte und Märchen interpretieren

Der Reichtum der mittelalterlichen Theologie kommt aus der Betrachtung des sogenannten vierfachen Schriftsinns:

  • der buchstäbliche, wortgetreue Sinn,
  • der allegorische, metaphorische Sinn, aus dem sich auch Dogmen ableiten,
  • der moralische („tropologische”) Sinn und
  • der eschatologische (oder „anagogische”) Sinn, der auf die Vollendung des Einzelnen oder der ganzen Schöpfung hinweist.

Die Parallelität zur Betrachtung von Märchen auf allen Sinn-Ebenen ist unübersehbar und auch nicht zufällig. Beim Betrachten von Märchen bewegen wir uns auf analogen Ebenen. Damit soll in keiner Weise eine Anwendung der alten Bibeltext-Interpretationsmethode “Vierfacher Schriftsinn” auf Märchen angesagt werden. Auf die Märchenbetrachtung “übersetzt” könnte das etwa so heissen: Weiterlesen

Verantwortung

Dies ist ein Beitrag zur Blog-Parade von Frank Obels zum Thema Verantwortung.

Wie halten es die Märchenheldinnen und -helden mit der Verantwortung ?
Welche Vorbilder geben sie ?

Diese Frage habe ich mir noch nie gestellt. Und ich bin in kurzer Zeit auch nicht wirklich weit gekommen. Was nicht heisst, dass etwas mehr Nachforschungen auch mehr bringen könnte.

Verantwortung auf dem Lebensweg übernehmen – Verantwortung ist ein Attribut des Erwachsenseins.

Verantwortung übernehmen bedeutet, Entscheidungen selbst fällen zu können, wählen unter mehreren Handlungsmöglichkeiten, eben frei sein. In einer Welt, in der es nur Bestimmung gibt, kann man im besten Fall noch die Verantwortung dafür übernehmen, seine Bestimmung anzunehmen. Man wird dann natürlich auch verantwortlich für die Folgen seines Handelns, unabhängig davon, ob die Handlung moralisch gut, zumindest legal oder gar verbrecherisch war. Siehe auch mein eher grundsätzlicher Artikel zum Thema.

In den Märchen tragen die Märchenheldinnen und -helden oft die Verantwortung für ihr Handeln zur Lösung der Probleme, aber …

… viele Märchenheldinnen und -helden befinden sich auf ihrem Weg noch im Stadium der Unmündigkeit, können also keine Verantwortung tragen. Weiterlesen

Verantwortung – grundsätzlich

Dies ist ein Beitrag zur Blog-Parade von Frank Obels zum Thema Verantwortung.

Verantwortung ???

Seit der Aufklärung sind Freiheit und Verantwortung miteinander gekoppelt. Die Philologen sagen übrigens, dass das Wort Verantwortung bis in späte Mittelalter gar nicht existierte.

Freiheit heisst, Verantwortung für das eigene Leben zu übernehmen. Jeder Entscheid für eine Handlungsmöglichkeit hat mit Verantwortung zu tun. Verantwortung gibt es nur, wenn Ungewissheit vorliegt. Umgekehrt: Ist alles klar, gibt es keine Verantwortung zu tragen.

Wer kann also verantwortlich sein ? Nur ein im geistigen Sinne erwachsener Mensch, der einen freien Willen hat. Weiterlesen