Kategorie-Archiv: Weisheiten, Zitate, Verse

Wahrheit und Märchen

“Rätselhaft ist das menschliche Herz: Es verlangt nach Wahrheit, nur in ihr kann es Befreiung und Entzücken finden, und doch reagieren die Menschen zunächst auf die Wahrheit mit Feindseligkeit und Furcht. Daher ha­ben die geistlichen Lehrer der Menschheit wie Buddha und Jesus einen Weg gefunden, um den inneren Wider­stand ihrer Zuhörer zu umgehen: die Geschichte. Sie wuss­ten, die bezwingendsten Worte in jeder Sprache lauten: »Es war einmal …« und mag es auch üblich sein, der Wahrheit zu widerstehen, so ist es doch unmöglich, sich gegen eine Geschichte zur Wehr zu setzen.

Vyasa, Autor des Mahabharata, sagt, wer einer Ge­schichte aufmerksam lausche, wird nie mehr der Glei­che sein wie zuvor, weil die Geschichte sich in sein Herz hineinschlängeln wird und die Schranken vor dem Gött­lichen niederreisst.”

Zitiert aus dem Vorwort (Seite 5) im Buch „Warum der Schäfer jedes Wetter liebt“ von Anthony De Mello.
Herder-Verlag 2013

Vergleiche auch diese Geschichte aus der jüdischen Erzähltradition. die ich so ähnlich oft am Anfang eines Märchenabends erzähle.

Irgendwoland

„Jedes Märchen führt in ein anderes Land, nämlich in ein Land, das in uns liegt.
Nicht in ein fremdes „Irgendwoland”, sondern es führt in uns selbst.
Das ist das andere Land, aber wir beobachten es nicht, weil der Alltag uns eigentlich immer glauben macht, wir seien schon im Land.
Aber unser eigenes Inneres verfehlen wir sehr oft. Das Märchen ist Weg.”

Rudolf Geiger

Mögen Euch Rosen geschenkt werden

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Alles Gute zum neuen Jahr 2015 mit dieser kleinen Geschichte
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Die Bettlerin und die Rose

Von Rainer Maria Rilke gibt es eine Geschichte aus der Zeit seines ersten Pariser Aufenthaltes.

Gemeinsam mit einer jungen Französin kam er um die Mittagszeit an einem Platz vorbei, an dem eine Bettlerin sass, die um Geld anhielt. Ohne zu irgendeinem Geber je aufzusehen, ohne ein anderes Zeichen des Bittens oder Dankens zu äussern als nur immer die Hand auszustrecken, sass die Frau stets am gleichen Ort. Rilke gab nie etwas, seine Begleiterin gab häufig ein Geldstück.

Eines Tages fragte die Französin verwundert nach dem Grund, warum er nichts gebe, und Rilke gab ihr zur Antwort: “Wir müssen ihrem Herzen schenken, nicht ihrer Hand.” Wenige Tage später brachte Rilke eine eben aufgeblühte weisse Rose mit, legte sie in die offene, abgezehrte Hand der Bettlerin und wollte weitergehen. Da geschah das Unerwartete: Die Bettlerin blickte auf, sah den Geber, erhob sich mühsam von der Erde, tastete nach der Hand des fremden Mannes, küsste sie und ging mit der Rose davon.

Eine Woche lang war die Alte verschwunden, der Platz, an dem sie vorher gebettelt hatte, blieb leer. Vergeblich suchte die Begleiterin Rilkes eine Antwort darauf, wer wohl jetzt der Alten ein Almosen gebe.

Nach acht Tagen sass plötzlich die Bettlerin wieder wie früher am gewohnten Platz. Sie war stumm wie damals, wiederum nur ihre Bedürftigkeit zeigend durch die ausgestreckte Hand. “Aber wovon hat sie denn all die Tage, da sie nichts erhielt, nur gelebt?”, frage die Französin. Rilke antwortete: “Von der Rose . . .”

Fabel und Sphinx

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Novalis: Gespräch zwischen Fabel und SphinxNovalis
(aus Heinrich von Ofterdingen, Teil 1/20)

 ›Was suchst du?‹ sagte die Sphinx.
›Mein Eigentum‹, erwiderte Fabel.

›Wo kommst du her?‹ – ›Aus alten Zeiten.‹ –

›Du bist noch ein Kind‹ – ›Und werde ewig ein Kind sein.‹ –

›Wer wird dir beistehn?‹ – ›Ich stehe für mich. ‹ 

Anstelle des Namens “Fabel”, bei Novalis die Tochter von Sinn und Phantasie, könnte auch „Märchen“ stehen.

Oder was meinst Du ?

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Märchen von Vögeln in Weil (Kulturzentrum Kesselhaus) am 18. Februar

Nachlese zum gelungenen Abend im Kulturzentrum im Kesselhaus in Weil am Rhein:
http://maerchenquelle.ch/3198/veranst/demnaechst/2014/federleicht-und-folgenschwer/

Etwa 30 am gesprochenen und gedichteten Wort interessierte Menschen aus Weil und Umgebung trafen sich am Abend des 18. Februar im Kulturzentrum Kesselhaus zu einer Stunde Märchen, erzählt von Mitgliedern des Basler Märchenkreis’. Dann folgte eine Stunde freien Austauschs mit spontan erzählten Geschichten, dem Grimm-Märchen von den drei Federn und allerlei Gedichten (beliebt: Eugen Roth).

Wir “Basler”, nicht zum ersten Mal zu Gast im Kesselhaus, erzählten unter anderem folgende Märchen und Kurzgeschichten:

  • Der Fuchs und die Gänse
  • Es ist wirklich wahr!
  • Die Märchen der weisen Eule
  • Die Eule Weemullee
  • Die Braut von der Vogelinsel
  • Der einbeinige Truthahn
  • Das Storchenland
  • Der kleine Vogel
  • Der Pfingstspatz 

Herzlichen Dank auch an Matthias und sein Team für die Vorbereitung und Moderation.

 

Gleichzeitigkeit

Textauszug aus dem “Siddharta” von Hermann Hesse (Kapitel “Der Fährmann”).

Ich kapiere das erst jetzt, nachdem uns die Physiker im 20. Jhdt. auch die naturwissenschaftlichen Grundlagen für das Verständnis geliefert haben. Die Erfindung der Zeit und unsere Knechtschaft ist unser zentrales Problem.

Mehr aber, als Vasudeva ihn lehren konnte, lehrte ihn der Fluss. Von ihm lernte er unaufhörlich. Vor allem lernte er von ihm das Zuhören, das Lauschen mit stillem Herzen, mit wartender, geöffneter Seele, ohne Leidenschaft, ohne Wunsch, ohne Urteil, ohne Meinung.

Freundlich lebte er neben Vasudeva, und zuweilen tauschten sie Worte miteinander, wenige und lang bedachte Worte. Vasudeva war kein Freund der Worte, selten gelang es Siddhartha, ihn zum Sprechen zu bewegen.

«Hast du», so fragte er ihn einst, «hast auch du vom Flusse jenes Geheime gelernt: dass es keine Zeit gibt?»

Vasudevas Gesicht überzog sich mit hellem Lächeln.

«Ja, Siddhartha», sprach er. «Es ist doch dieses, was du meinst: dass der Fluss überall zugleich ist, am Ursprung und an der Mündung, am Wasserfall, an der Fähre, an der Stromschnelle, im Meer, im Gebirge, überall, zugleich, und dass es für ihn nur Gegenwart gibt, nicht den Schatten Zukunft?»

«Dies ist es», sagte Siddhartha. «Und als ich es gelernt hatte, da sah ich mein Leben an, und es war auch ein Fluss, und es war der Knabe Siddhartha vom Manne Siddhartha und vom Greis Siddhartha nur durch Schatten getrennt, nicht durch Wirkliches. Es waren auch Siddharthas frühere Geburten keine Vergangenheit, und sein Tod und seine Rückkehr zu Brahma keine Zukunft. Nichts war, nichts wird sein; alles ist, alles hat Wesen und Gegenwart.»

Siddhartha sprach mit Entzücken, tief hatte diese Erleuchtung ihn beglückt. Oh, war denn nicht alles Leiden Zeit, war nicht alles Sichquälen und Sichfürchten Zeit, war nicht alles Schwere, alles Feindliche in der Welt weg und überwunden, sobald man die Zeit überwunden hatte, sobald man die Zeit wegdenken konnte? ….